Edition Deutsch
    Library / Literary Works

    Walther Kabel

    Die gelbe Gefahr.

    Ich beobachtete verstohlen die Gesichter unserer Damen und Herren, die alle mit gespanntester Aufmerksamkeit der Erzählung unseres liebenswürdigen Gastgebers, eines alten Oberförsters, gefolgt waren. Diese Erzählung war eine jener berüchtigten Jagdgeschichten, wie sie verwitterte Grünröcke nur zu gern dem stets dankbaren, ahnungslosen Großstädter auftischen. Der Oberförster, der sehr wohl wußte, daß die meisten von uns einen Rehbock nur im Tiergarten und eine Büchsflinte allerhöchstens in dem Schaufenster einer Waffenhandlung gesehen hatten, glaubte uns sein Jägerlatein ohne Scheu in vermehrter und verbesserter Auflage vorsetzen zu können. Die Pointe seiner mehr wie unverschämt erfundenen Geschichte lief darauf hinaus, daß er nach einem Fehlschuß auf einen Kapitalbock vor dem ihn „annehmenden“ Tiere flüchten und schließlich sogar eine dürre Eiche erklettern mußte, wo ihn der Bock dann mehrere Stunden lang belagerte, da er auf der Flucht seine Büchsflinte – verloren hatte!

    Selbst mein Kollege, der Assessor Körber, ein großer Nimrod vor dem Herrn – was allerdings dem Oberförster unbekannt war –, schien der mit großer Routine vorgetragenen Münchhausiade vollen Glauben zu schenken. – Es schien aber nur so! Denn jetzt trafen sich unsere Blicke, und gleichzeitig zogen wir beide vielsagend die Augenbrauen hoch. Das hieß nichts anderes als: Himmel, war das wieder einmal aufgeschnitten!

    Aber Körber schwieg und überließ es den anderen, den innerlich sicher hohnlachenden Weidmann nach interessanten Einzelheiten auszufragen.

    Wir saßen im Garten der Oberförsterei um einen großen runden Tisch, der von einer breitästigen alten Buche völlig überschattet wurde. Es war ein heißer Sommernachmittag; die Blätter der Bäume bewegten sich nur träge in dem kaum fühlbaren Luftzuge, die Hunde rekelten sich faul in der Sonne, und selbst das sonst stets mobile Hühnervolk hockte untätig im Schutze einiger Brombeersträucher, die an der Mauer des Stallgebäudes üppig wucherten.

    Als das allgemeine Gespräch über den sonderbaren Jagdunfall des Oberförsters abzuflauen begann, sagte mein Kollege Körber in etwas geringschätzigem Tone: „Ihre Erzählung, Herr Oberförster, war ja zweifellos sehr spannend und – das Erlebnis für Sie immerhin mit einiger Gefahr verbunden. Aber in wirklicher Lebensgefahr schwebten Sie doch nicht. Denn – was hätte Ihnen der Rehbock antun können, selbst wenn Sie nicht die Eiche erklettert und dort Schutz vor seinem Gehörn gesucht hätten?! – Das schlimmste wären einige Löcher in ihrem Anzug und einige Schrammen in der Haut gewesen!“

    Damit hatte Körber die Unterhaltung wieder in Fluß gebracht. Ihm wurde aufs lebhafteste widersprochen, besonders von den Damen. Er lächelte aber nur spöttisch vor sich hin, bis schließlich der alte Grünrock selbst eingriff und sagte: „Sie tun ja gerade so, bester Assessor, als wären Sie schon einmal in unserem harmlosen deutschen Walde den Klauen …“

    „Bitte, Herr Oberförster,“ unterbrach Körber ihn, „ich bin allerdings in unserem harmlosen deutschen Walde in ernste Lebensgefahr geraten, aus der mich nur ein glücklicher Zufall rettete …“

    „Bitte – bitte – erzählen!“ rief die kleine niedliche Frau Staatsanwalt v. Herhut sofort, und die anderen Damen baten ebenso eifrig. Körber zeigte auch hier seine stets bewiesene Galanterie. Er nickte Gewährung, tat noch einen langen Zug aus seiner Zigarette und warf dann den Rest hinter sich auf den grünen Rasen.

    „Es sind jetzt genau neun Jahre her,“ begann er langsam, als wolle er erst die Erinnerung an jenes Erlebnis wach werden lassen. „Ich war damals als Referendar am Amtsgericht in X. beschäftigt, einem kleinen Städtchen in Westpreußen nahe der pommerschen Grenze. Da die Stadt mir nichts bieten konnte, benutzte ich meine freie Zeit um so eifriger zu längeren Ausflügen in die Umgegend, die mich bis in die kassubische Schweiz, nach Karthaus und den Radaunenseen führten. Ich bin seit meiner Militärzeit ein sehr guter Fußgänger; der langsame Schritt, die Übungsmärsche und das Manöver haben mir die überflüssige Bewegungsfaulheit gründlich genommen. So wollte ich denn auch am 15. Juni – es war ein Mittwoch, den Tag vergesse ich nie – um halb zwei Uhr nachmittags zu einer Fußtour nach dem am Chmelnosee gelegenen Dorfe Z. aufbrechen. Z. ist bekannt durch seine malerische Lage und seine „Unkultur“, die man dort noch ganz unverfälscht vorfindet. Unter anderem kann man dort z. B. noch die armen Kassuben in halb in den Berg eingebauten Erdhütten antreffen, ebenso ihre selten oder nie gewaschenen Kinder in adamitischen Kostümen. – Das so nebenbei. – Ich hatte mich mit meinem damaligen Vorgesetzten, dem Amtsrichter Werner, verabredet. Dieser sagte jedoch in letzter Minute ab. Er scheute die Anstrengungen des weiten Weges, der allerdings bei 22 Grad im Schatten keine Erholungsreise werden konnte. So brach ich denn allein auf, wohlversehen mit Proviant, einer Generalstabskarte und meinem handfesten Spazierstock, der in seinem Innern eine scharf geschliffene Degenklinge enthielt. Die Herrschaften kennen ja wohl alle diese sogenannten Degenstöcke. – Ich verfolgte zunächst eine Stunde lang die Chaussee, bog dann links in einen Waldweg ein, der unter hochstämmigen Fichten sich durchschlängelte, und schritt in einem Tempo dahin, das sicher meinem etwas korpulenten Vorgesetzten großes Mißbehagen bereitet hätte. Ich trug damals zu meinen Ausflügen einen leichten, grauen Flanellanzug – ein ausrangiertes Tenniskostüm –, dazu einen breitrandigen Strohhut und bequeme Lederstiefel. Sorgen hatte ich nicht, ich fühlte den Zauber des deutschen Waldes wieder auf mich wirken, atmete fröhlich die harzige, ozonreiche Luft ein, freute mich über die Vögel in den Haselnußsträuchern und über die flinken Eichhörnchen – anscheinend nichts nah und fern, was meinen Jugendfrohsinn stören konnte. Gewiß, es gab Kreuzottern in den Wäldern, ich hatte sogar einigen dieser giftigen Reptilien schon kunstgerecht mit meiner Degenklinge den Kopf abgeschlagen; aber das kriechende Gewürm konnte man vermeiden, wenn man nur etwas vorsichtig, war. Kein Wunder also, wenn ich beinahe übermütig die Verse eines alten Studentenliedes vor mich hinsummte.

    Der Nadelwald hörte auf, und ich betrat eine frisch ausgeholzte Lichtung, aus der sich nur einige Anpflanzungen junger Buchen wie hellgrüne Inseln hervorhoben. Hier spendete mir kein Baum wohltuenden Schatten. Ich fühlte die Sonnenstrahlen sengend auf meinem Hute, meinen Kleidern, sah über dem in allen Farben schillernden Waldboden die heiße Luft flimmern und beeilte daher meine Schritte, um schneller das jenseitige schützende Laubdach zu erreichen.“

    Körber schwieg eine Weile, um dann mit erhobener Stimme fortzufahren: „Da – ich befand mich vielleicht in der Mitte der Lichtung – ertönte plötzlich hinter mir ein – ja, wie soll ich sagen – ein Schreien, ein Geheul, das mir durch Mark und Bein ging. Es war ein an- und abschwellendes, langgezogenes Hui … i … i … i … hu … hu …, das in dumpfem, gräßlichem Grollen ausklang. Unwillkürlich stockte mein Fuß, blitzschnell fuhr ich herum und schaute zurück. Und da … da sah ich auf dem von niederem Gesträuch umgebenen Pfade zwischen zwei besonders hohen Farnkrautbüscheln einen rötlichgelben Tierkopf erscheinen – ich sah trotz der weiten Entfernung auch, daß das Gesicht des Tieres mit dunkleren Flecken und Streifen gezeichnet war. – Anfänglich dachte ich an einen Hund, der sich wildernd in dem Forst umhertrieb. Ich hatte schon öfter solche herrenlose Köter angetroffen, die von jedem Förster erbarmungslos niedergeschossen werden, da sie mehr Schaden in dem Wildbestand anrichten als das eigentliche Raubzeug: Füchse, Marder usw. Nun glaubte ich mir auch das eigenartige Geheul erklären zu können, das aber auch für einen verwilderten Hund merkwürdig genug blieb. Und doch … plötzlich merkte ich etwas an mir wie eine leichte Unruhe, ich spürte mein Herz schneller schlagen; wie die Ahnung einer mir drohenden Gefahr kam es über mich, und ängstlich spähend blickte ich zwischen den Blättern der Buchenstämmchen hindurch, die mich halb verbargen. Dann sehe ich, wie sich dem Kopfe des angeblichen Hundes vorsichtig ein langer Körper nachschiebt, viel zu lang für ein Tier der Gattung Canis familiaris, sehe eine weißlichgelbe Kehle und Vorderbrust … Meine Augen starren noch hinüber – da tritt das Tier auf den kahlen Weg aus dem Gestrüpp hervor – mein Herzschlag droht zu stocken, eine Eiseskälte läuft mir über den Rücken … denn keine 300 Meter vor mir steht … ein ausgewachsenes Exemplar der Gattung Felis leo … ein mächtiger Leopard …“

    Hier ließ der Oberförster ein leises Räuspern hören. Körber unterbrach seine Erzählung, nahm den Hut ab und betupfte die feuchte Stirn mit dem Taschentuch. Die Erinnerung ging ihm augenscheinlich sehr nahe. Dann wandte er sich mit großer Ruhe an den alten Weidmann, um dessen Augen sich jetzt die kleinen Fältchen in ironischem Lächeln vertieft hatten.

    „Sie hegen Zweifel an der Wahrheit meines Erlebnisses, Herr Oberförster? … Das sollte doch wohl Ihr Räuspern ausdrucken?“ meinte der Assessor unbefangen.

    „Ehrlich gesagt … ja! Denn ein Leopard in …“

    „Die Sache findet später eine sehr einfache Erklärung,“ fiel ihm Körber ins Wort. „Hören Sie nur weiter. Wenn ich über die Natur des Tieres überhaupt noch im unklaren sein konnte, so brachten mir schon die nächsten Sekunden volle Gewißheit. Denn langsam, den Kopf gesenkt, begann der gelbe Körper vorwärts zu schleichen; es war das für alle Katzenarten so charakteristische Winden und Drehen der geschmeidigen Glieder, dieses heimtückische, vorsichtige, unhörbare Gleiten, wie man es bei jeder einen armen Sperling beschleichenden Hauskatze beobachten kann. Über die folgenden Minuten habe ich mir nie recht klarwerden können. Ich weiß nur noch, daß ich mit Riesensätzen dem Walde zustürmte – daß ich auf dieser wahnsinnigen Flucht plötzlich an eine alte Buche dachte, die etwas rechts von mir am Rande der Lichtung stand und die ich einmal auf einem früheren Spaziergange unter großen Schwierigkeiten erklettert hatte, um mir eine gut zweiundeinhalb Meter vom Boden entfernte Öffnung anzusehen, da ich vermutete, daß die Buche trotz ihres üppigen Blätterschmucks vollständig ausgefault sei – was sich dann auch bestätigte. Und dieser hohle Baum sollte mir jetzt – leichtsinnige Hoffnung – Rettung bringen! Ohne mich umzuschauen, flog ich über Gestrüpp, Baumstümpfe, Gräben dahin; mein Hut fiel mir vom Kopf – ich achtete nicht darauf, hielt nur krampfhaft meinen Stockdegen, meine einzige Waffe, fest … Keuchend stand ich endlich unter der Buche, wagte einen Blick nach rückwärts und – atmete auf; von dem Raubtier war nichts zu sehen – friedlich lag die sonndurchleuchtete Lichtung vor mir mit ihren bunten Farben, den hellgrünen Buchenschößlingen, den graubraunen, wehenden Farnkräutern und dem mannigfach schillernden Erdboden, über dem die Zitronenfalter auf und ab schwebten in graziösem Spiel. Ich wurde ruhiger, trotzdem mein Atem flog und alle Muskeln meines Körpers von der übergroßen Anstrengung des langen Galopps zitterten. Da sah ich kaum fünf Schritt seitwärts einen Haufen von aufgeschichteten, zerspaltenen Eichenkloben, sah ganz oben ein handliches Stück liegen, das mit seinen scharfen Kanten eine gefährliche Keule abgab. Es holen und mit gutgezieltem Wurf in das breite Loch des Stammes hineinschleudern, war eins. Dann nahm ich meinen Stock zwischen die Zähne, kletterte an der mit Auswüchsen reichlich versehenen Buche empor, streckte die Beine in die Höhlung, rutschte mit dem Körper nach, fand einen Stützpunkt für meine Füße und … stand nun bis zur halben Brust in dem Baume und hatte meinen haarscharfen Stockdegen und die schwere eichene Keule als Waffen.

    Da kam eine fast unnatürliche Ruhe über mich; meine Gedanken arbeiteten wieder logisch, ich erwog die Chancen meiner Verteidigungsstellung, und sie waren nicht schlecht. Im Rücken hatte ich Deckung; um mich zu erreichen, mußte das Raubtier erst einen über zwei Meter hohen Sprung wagen – ich war nicht ohne Abwehrmittel; mit Degen und Keule glaubte ich den Eingang zu meinem Schlupfwinkel wohl verteidigen zu können! – Nun traf ich meine Zurüstungen. Ich bückte mich vorsichtig und tastete nach meinem Eichenknüttel, den ich auch fand und nun so in der Höhlung festklemmte, daß er mir gut zur Hand war. Dann schraubte ich die Krücke meines Stockes ab, zog den Degen heraus und ließ die überflüssige Holzhülle in den Stamm hinabgleiten. Bei dem Anblick des blanken Stahles – es war eine Solinger Klinge – verschwand auch der letzte Rest von Aufregung. Ruhig untersuchte ich meine Festung, maß mit den Augen nochmals die Entfernung zum Erdboden und überlegte mir die beste Art und Weise der Verteidigung. Schließlich wagte ich auch nach einiger Zeit mich vorzubeugen und Umschau zu halten. Schnell fuhr ich aber zurück – denn unter mir am Fuße der Buche stand der Leopard, und seine grünlich schimmernden Augen waren gerade auf mich gerichtet … Wieder begann mir das Herz in der Brust zu jagen, ich fühlte den kalten Schweiß auf der Stirn, meine Hand, die den Stockdegen hielt, zitterte kraftlos … Aber mit übermenschlicher Energie zwang ich mich zur Ruhe; blitzschnell erwog ich nochmals meine Aussichten auf Rettung; die Gedanken stürmten … langsam klärten sie sich, der Wille siegte über die augenblickliche Nervenschwäche. Vorsichtig schaute ich wieder hinab. Der Leopard stand jetzt vielleicht fünf Schritt von dem Baum entfernt und … jetzt, als er mich erblickte, duckte er sich, zog die Hinterpranken an, der Körper krümmte sich zusammen, die Augenlider sanken halb über die phosphoreszierenden Pupillen herab … Ich wußte, im nächsten Moment würde das Raubtier anspringen – ich erhob schnell die Eichenkeule, nachdem ich den Degen griffbereit neben mir in den Stamm gebohrt hatte, und wartete, ohne meinen Feind aus den Augen zu lassen. Und dann – dann schnellte der gelbe Körper zu mir empor, in Höhe meines Kopfes erschien der buntgefleckte des Leoparden … Ich schlug mit aller Kraft zu, keinen Moment zu früh, traf den Schädel gerade zwischen den Ohren, hörte noch die Krallen des Tieres an der Rinde der Buche entlang kratzen … Der Angriff war abgeschlagen. Der Hieb hatte getroffen, bevor der Leopard sich mit den Tatzen am Rande der Öffnung anklammern konnte. Ich beugte mich vor, sah, wie dem anscheinend halbbetäubten Raubtier das Blut über die gelbe Schnauze herabtroff, wie es dann mit angezogenem Schwanz sich in einiger Entfernung mir gegenüber niederließ und mißvergnügt zu mir emporblinzelte. Das Blut begann reichlicher zu fließen, verklebte dem Leoparden das rechte Auge, und – beinahe mußte ich über den Anblick lachen – vergeblich versuchte dieser unbeholfen mit der Tatze das geblendete Auge zu reinigen. Das gegenseitige Beobachten dauerte eine ganze Weile. Schließlich dachte ich daran, um Hilfe zu rufen, da diese Belagerung immerhin keine Annehmlichkeit war. Ich erhob also meine Stimme, und gellend klang’s in den stillen Forst hinein: ‚Hi–i–i–il–fe … Hi–i–il–fe!‘

    In dem gellenden Hilferuf schien das langgezogene I meinem gelben Feind, dem Leopard, auf die Nerven zu fallen. Die Muskeln spannten sich wieder, ich merkte, daß ich mich eines neuen Angriffs zu gewärtigen hatte. Aber meine sofort schlagbereit erhobene Eichenkeule mochte das Raubtier warnen; wahrscheinlich brummte ihm auch noch sein Dickschädel von dem ersten Hiebe – jedenfalls streckte er sich wieder aus, und ich ließ aus Dankbarkeit für diesen Waffenstillstand den Knüttel sinken, erhob aber desto lauter meine stimme. ‚Hi–i–il–fe!‘ – Doch ich hatte mich zu sicher gefühlt. Denn plötzlich schoß eine gelbe Linie durch die Luft, mein Hieb traf zwar noch, kam aber zu spät … Der Leopard hing mit den Vorderpranken in der Baumhöhle, schob sich höher und höher, sein stinkender Atem schlug mir ins Gesicht … Über mich war’s wie eine Erstarrung gekommen, ich glaubte mich verloren. Doch mit der Kraft der Verzweiflung setzte ich jetzt meine Keule in Schwung, hieb blindlings zu … mit einer Wut, die an Irrsinn grenzte … und dann … dann ließen die Pranken los, der gelbe Kopf verschwand, und dumpf hörte ich den Körper des Tieres auf den Boden aufschlagen … Halbtot lehnte ich mich zurück und schloß die Augen. Denn in tollem Wirbel drehten sich jetzt Bäume, Himmel und Erde vor mir … ich war einer Ohnmacht nahe. Hätte der Leopard in dem Augenblick einen dritten Ansturm gewagt, ich wäre ihm ohne Gegenwehr zum Opfer gefallen. Aber zu meinem Glück hatte ich Zeit, mich zu sammeln. Minuten vergingen, nichts regte sich. Langsam wich die allgemeine Abspannung, sehr langsam kehrte auch der Lebensmut zurück. Dann wagte ich’s vorsichtig, den Kopf vorzustrecken, um nach meinem Feind zu sehen. Er lag lang ausgestreckt da, sein blutüberströmter Kopf bewegte sich langsam hin und her, kraftlos wie der eines schwer Angeheiterten, und seine Tatzen wühlten wie im Krampf das grüne Moos auf … Sollte ich ihn so schwer verletzt haben, daß auch seine Kraft zu Ende war? – Fast schien es so! – Aber dann … dann erhob das wunde Tier ein markerschütterndes, langgedehntes Geheul, schauerlich klagend, bis die Töne in einem nachhallenden Huhu erstarben … Wer diese Raubtiertöne nur in einer Menagerie, nur in den engen Käfigen gehört hat, kann sich keine Vorstellung davon machen, wie dieselben im Freien wirken, wie sie meine Nerven erbeben machten, wo ich sie so dicht unter mir anschwellen und verklingen hörte. Selbst das stöhnende Brüllen des Löwen, das klägliche Grunzen und Heulen der Hyäne kommt in keiner Weise an Schaurigkeit dem entnervenden, so gellend und wechselvoll in allen Tonlagen vorgebrachten Schreien des Leoparden gleich. Und wieder und wieder erklang dieses Geheul; ich hätte mir die Ohren verstopfen mögen, nur um diesen Tönen zu entgehen, die mich verwirrten und mir kalte Schauer über den Leib jagten. Dann, während ein Augenblick Stille herrichte, war’s mir, als ob von fern Antwort herüberschallte – eine ebenso gräßliche, nicht wiederzugebende Reihe von tierischen Lauten; und, hob nicht auch mein gelber Belagerer da unten lauschend den Kopf, spitzte er nicht horchend die Ohren? Jetzt erhob sich der Leopard lauschend, streckte sich aus … und jetzt hörte ich’s ganz deutlich. Da drüben jenseits der Lichtung erklang’s: Hu … i … i … i … hu … hu …“

    Kollege Körber trocknete wieder die Stirn und fächelte sich mit dem Taschentuch Kühlung zu. Er atmete schwer, und mitleidig meinte die kleine Frau v. Herhut: „Greift’s Sie so an? Sie Ärmster!“

    Körber winkte lässig mit der Hand ab: „Ich bin ja mit dem Leben davongekommen, gnädigste Frau … aber die Erinnerung geht mir doch sehr, sehr nahe!“

    Unsere Damen waren näher aneinander gerückt. In aller Augen konnte man die Spannung lesen, die die Gemüter beherrschte. Selbst der alte Oberförster blickte mit unverhohlenem Interesse den Erzähler an.

    Körber begann nach kurzer Pause: „Lauschend stand also der Leopard unter mir; aber nichts störte die jetzt herrschende Stille. Da – plötzlich schnellte das Raubtier mit einem Satze, der mir so recht seine ungebeugte Kraft zeigte, in das nahe Gebüsch – ich hörte noch das Knacken einiger Zweige – dann nichts mehr – nichts … Schon glaubte ich mich befreit, hoffte, daß vielleicht einige Waldarbeiter nahten, die durch meine Hilferufe herbeigezogen waren und vor denen der Leopard flüchtig wurde, als – ja meine Herrschaften, als in meiner nächsten Nähe hinter dem grünen Blättervorhang ein Höllenkonzert begann – ein Heulen, Winseln, Miauen und Fauchen, als ob plötzlich eine ganze Menagerie ihr Getier dort hinter den Haselnußbüschen versammelt hätte und dieses Viehzeug, froh der ersehnten Freiheit, auf seine Art dem Schöpfer für seine Befreiung danken wollte. Aber ebenso plötzlich verstummte jeder Ton … Vorgebeugt horchte ich in den Wald hinein. Nichts als das Raunen und Rauschen der Blätter, das einschläfernde Säuseln in den Fichtennadeln und weit ab das Krächzen eines Eichelhähers, der durch die Baumwipfel strich … Minuten vergingen. Wieder begann mein Herz zu jagen. Ich hörte seine Schläge, hörte das aufgeregte Blut in den Ohren summen und fühlte, wie meine Nerven jetzt ganz streikten … Eine müde Gleichgültigkeit beschlich mich, nur ein Wunsch war noch rege in mir: Ruhe – Ruhe!

    Ich merkte einen neuen Ohnmachtsanfall herannahen, sah das grüne Blattgewirr und die dunklen Stämme vor mir verschwimmen, das Waldbild begann sich langsam zu drehen, bis der durchsichtig klare Himmel unten schwebte, oben der Waldboden, von dem wie Eiszapfen von der Dachrinne die schlanken Fichten herabhingen … Weiter drehte sich das Bild … und dann erschienen darin zwei große, bewegliche gelbe Flecken, die wie die gespenstigen Gestalten einer Fata Morgana mit den Köpfen nach unten vorwärts huschten … Nochmals nahm ich meine ganze Willenskraft zusammen, biß die Zähne in die Lippen … der Schmerz rüttelte mich für Sekunden auf. Ich sah … ja, äffte mich ein Spuk, täuschte mich mein überreiztes Hirn? … ich sah zwei mordgierig funkelnde Augenpaare auf mich gerichtet … und jetzt … jetzt legte sich das eine Tier nieder, das andere, kleinere, blieb stehen und schlug mit dem langen Schwanz den Boden … Keine Täuschung … ich hatte zwei Leoparden vor mir … jenes Geheul aus der Ferne war die Antwort eines zweiten Raubtiers gewesen …

    Ich sank zurück, meine zitternde Hand hielt kaum noch die Eichenkeule … Und doch wurde ich nicht ohnmächtig, wie ich anfangs fürchtete. Vielleicht war der Schreck zu groß, vielleicht peitschte die Todesangst meine Nerven wieder wach … Meine Gedanken arbeiteten blitzschnell; ein eigenartiger Zustand hatte sich meiner bemächtigt. Wie im Traum durcheilte ich in Sekunden lange Zeiträume, Erinnerungen aus meiner frühesten Kindheit tauchten auf, unzusammenhängende Bilder aus verschiedenen Lebensabschnitten glitten an meinem geistigen Auge vorüber - alles so greifbar deutlich und mit einer so rasenden Geschwindigkeit das Hirn durchkreuzend und doch immer wieder in demselben Gedanken endigend: „Das ist nun alles vorbei – alles – du bist verloren!“

    Was nun folgte, lebt noch so deutlich in meiner Erinnerung, als hätte ich das Schreckliche erst gestern durchgemacht. Die furchtbaren Szenen hat die Todesangst meinem Geiste unauslöschlich eingeprägt. Plötzlich fuhr ein gelber Körper durch die Luft, ich wollte die Keule zur Abwehr erheben, da wurde sie mir aus der Hand geschlagen; das zweite Tier war zugesprungen. Beide hingen sie nun nebeneinander in der Baumöffnung. Wieder fühlte ich den stinkenden Atem mir ins Gesicht wehen, diesen penetranten Geruch, den alle Raubtiere ausströmen … Mit letzter Verzweiflung griff ich nach meinem Stockdegen, ließ die Keule fahren und stieß zu – einmal – wieder – wieder – bis mein Arm von dem furchtbaren Hiebe einer Tatze getroffen wurde, der Degen mir entfiel … Funken sprühten vor meinen Augen, ich glaubte noch etwas wie zwei kurz aufeinander folgende Schüsse zu hören … dann sank ich in einen Abgrund, versank in die Unendlichkeit mit wahnwitziger Geschwindigkeit – dann … wußte ich, fühlte ich nichts mehr … nichts …

    Als ich erwachte, lag ich in einem mir unbekannten Raume in einem Bett. Durch die Fenster des Zimmers ergoß sich ein breiter roter Schein der untergehenden Sonne bis auf mein Lager hin. Es war Abend geworden. Vorsichtig hob ich den Kopf, da kam’s herbeigeschwebt, umflossen von der Röte des scheidenden Tageslichts … Das Leben kam, ein Mädchen mit blonden, schweren Flechten um das liebliche Gesicht, und eine Stimme, mitleidig sorgend und doch bestimmt, flüsterte:

    „Rühren Sie sich nicht, Herr Referendar, der Herr Doktor hat’s streng verboten …“

    Gehorsam ließ ich den Kopf zurücksinken und schloß die Augen – öffnete sie aber sofort wieder, von Neugier getrieben.

    „Wo bin ich?“ fragte ich matt.

    Das blonde Kind stand noch am Fußende meines Bettes. Warnend hob sie die Hand: „Wenn Sie mir versprechen, ganz ruhig zuzuhören, nichts zu fragen, dann will ich Ihnen erzählen, wie Sie hierher gekommen sind. Aber still muüssen Sie liegen, ganz still.“

    Ich versprach’s und erfuhr dann den Schluß meines Abenteuers. Meine Hilferufe, mehr noch das Geheul der Raubtiere waren doch gehört worden und zwar von einem Ihrer Herren Kollegen, Herr Oberförster, der gerade in Begleitung eines Revierförsters eine neu angelegte Aufforstung in der Nähe besichtigte. Meine Retter schlichen sich heran, da sowohl meine Hilferufe als auch das ihnen unbekannte Geheul sie zur Vorsicht mahnten. Und keine Minute kamen sie zu früh … Ich hatte richtig gehört – zwei Schüsse holten die beiden Leoparden von dem Baume herab und zwei weitere machten ihnen völlig den Garaus. Schwierig soll es gewesen sein, mich leblose Kreatur aus dem Baume ins Freie zu schaffen. Aber auch das gelang schließlich, und mit Hilfe einiger Waldarbeiter wurde ich dann in die nahe Försterei geschafft, ein Arzt herbeigerufen und mein halbzerfleischter Arm verbunden. – Das erzählte mir das blonde Töchterlein des Försters, während ich behaglich ausgestreckt in den Kissen lag. – Leider stellte sich bald ein gehöriges Wundfieber ein, und wohl nur meiner aufopfernden Pflegerin hatte ich es zu verdanken, daß ich bereits nach zwei Wochen nach X übersiedeln und auch kurze Zeit darauf wieder meinen Dienst antreten konnte. Eins bedauere ich heute noch: des Försters liebliche blonde Tochter war verlobt, sonst … wer kann wissen?! … Und damit ist meine Geschichte zu Ende.“

    „Und wie kamen die beiden Leoparden in den harmlosen deutschen Wald?“ fragte schnell spöttisch lächelnd der Oberförster.

    Körber zögerte einen Moment mit der Antwort.

    „Hm … ja, wie gesagt, die Erklärung hierfür ist sehr einfach. Die Tiere waren an demselben Tage aus einer Menagerie entwichen, die mit ihrem Wagenpark die nach X führende Chaussee entlang fuhr. Der Wagen, der den Käfig der Leoparden bildete, hatte nämlich plötzlich ein Rad verloren, und durch das harte Aufschlagen des Wagenkastens waren die Schutzbretter der Rückwand aufgesprungen und – die Tiere schlüpften heraus und in den nahen Wald, wo die ausgehungerten Bestien dann mich als Opfer ausersahen, was ihnen notabene ja schlecht genug bekam. Denn sie mußten sich dafür das Fell über die Ohren ziehen lassen. Die beiden Felle liegen noch heute vor dem Schreibtisch meines Vaters als Andenken an die ‚gelbe Gefahr‘. – So, und nun, Herr Oberförster, seien Sie so freundlich und spendieren Sie mir etwas Alkoholisches. Die Erzählung hat mich doch recht angegriffen.“

    Der alte Grünrock erhob sich bereitwilligst. Ich schloß mich den beiden an und wir schritten dem Hause zu, während das wirre Durcheinandersprechen der Gesellschaft hinter uns hertönte. – Schweigend gingen wir in des Oberförsters trauliche Studierstube, schweigend holte unser Gastgeber aus der Röhre des mächtigen, grünen Kachelofens eine dickbauchige Flasche hervor. Wir kannten sie. Es war ein selbstfabrizierter Wacholderschnaps darin, ein großartiges Getränk, von dem der Erfinder nicht mit Unrecht behauptete, daß es Tote lebendig werden ließ.

    Unter andächtigem Schweigen floß der wasserklare Trank in die – Likörgläser zu sagen, wäre ein Unfug – Schnapsgläser, die gut ein zehntel Liter enthielten. Dann wollte mein halbverschmachteter Kollege nach dem Lebenselixier greifen. Aber schützend deckte der Oberförster seine wohlgepflegte und doch so sonnverbrannte Hand darüber.

    „Halt!“ meinte er bedächtig – dabei zuckte es wieder so ironisch um die hellen, durchdringenden Augen. „Bevor ich Ihnen den Schnaps bewillige, Herr Assessor, müssen Sie mir ehrlich sagen: Haben Sie die Geschichte mit den Leoparden wirklich erlebt?“

    Kollege Körber blieb völlig ernst.

    „Jawohl, Herr Oberförster – ebenso wie Sie die Ihrige mit dem Kapitalbock und der dürren Eiche!“

    „Donnerwetter,“ entfuhr es dem Grünrock bewundernd, „da können Sie wahrhaftig noch besser lügen als ich, und das will schon etwas heißen! Für die höchst anerkennenswerte Leistung haben Sie meinen Wacholder zweifellos verdient!“

    Da der halbverschmachtete Kollege nicht einen, sondern zwei Leoparden herunterzuspülen hatte, wurde noch ein zweiter genehmigt; der dritte galt dem Kapitalbock. Inzwischen wird wohl unsere Gesellschaft draußen unter der Buche dem der „gelben Gefahr“ so glücklich entronnenen Körber einen Glorienschein um sein phantasievolles Haupt gewoben haben! – Viel Vergnügen!




    OTHER RECOMMENDED ARTICLES


    © 1991-2024 The Titi Tudorancea Bulletin | Titi Tudorancea® is a Registered Trademark | Nutzungsbedingungen
    Contact