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Wilhelm Hauff
Die letzten Ritter von Marienburg.
1. Ein Poet.
„Guten Morgen, Neffe der Musen“, rief mit munterem Ton der junge Rempen einem Bekannten zu, dem er am Markt begegnete. „Ihre Augen leuchten, Ihre Mienen drücken eine gewisse Behaglichkeit aus, und ich wollte wetten, Sie haben heute schon gedichtet.“
„Wie man will, bester Stallmeister“, entgegnete jener, „in Reimen zwar nicht, aber an meinem neuen Roman habe ich ein paar Kapitel geschrieben.“
„Wie, an einem neuen Roman? Das ist göttlich, auf Ehre! aber bitte Sie, warum so geheim mit solchen Dingen, so verschlossen gegen die nächsten Bekannte und Freunde? Sonst ließen Sie doch hin und wieder ein Wörtchen fallen über Anordnung und Charaktere, lasen mir und andern einige Strophen; wie kömmt es denn, daß dies alles nun vorüber ist?“
„War es euch denn wirklich interessant?“ fragte der Dichter nicht ohne wohlgefälliges Lächeln. „Ich muß gestehen, mir selbst kommt, wenn ich etwas niedergeschrieben habe, alles so leer, so gemein, so langweilig vor, daß ich mich ennuyierte, wenn ich es nur in den Revisionsbogen wieder durchlas, da dachte ich denn, es könnte euch auch so gehen –“
„Uns? Gewiß, es machte uns immer Vergnügen!“
„Gut, lassen Sie uns dort bei dem Italiener eintreten und etwas trinken! Dabei will ich Ihnen den Plan meines neuen –“
„Wie!“ rief der Freund des Dichters lachend. „So frühe am Tage schon in die Restauration? Sind wir denn Leute aus einer neumodischen Novelle, daß wir gleich anfangs, des Tages nämlich, in einem Wirtshaus sitzen müssen, als ob es außer der Kirche und der Weinstube kein öffentliches Leben mehr geben könnte!“
„Wie kommen Sie nur auf diese Vergleichung!“ entgegnete jener. „Wie oft waren wir morgens bei Primavesi!“
„Es ging mir nur so durch den Kopf“, sprach der Stallmeister; „gestehen Sie selbst, seit Tieck mit Marlow und Green im Wirtshaus zusammenkam, glauben sie alle, es könne keinen schicklicheren Ort geben, um eine Novelle anzufangen; erinnern Sie sich nur an die Almanachs des letzten Jahres; doch Sie selbst sind ja solch ein Stück von einem Poeten, und wenn Sie durchaus heute mit dem Italiener anfangen wollen, so mögen Sie Ihren Willen haben.“
„Sie werden erwartet, Herr Doktor Zundler“, sagte der Italiener, als die beiden Männer in den Keller traten; „der Buchhändler Kaper sitzt schon seit einer Viertelstunde im Eckstübchen und fragte oft nach Ihnen.“
Der Stallmeister machte Miene, sich entfernen zu wollen; Doktor Zundler aber faßte hastig seine Hand: „Bleiben Sie immer“, rief er, „kommen Sie mit zu dem Buchhändler; er wird wohl von meinem neuen Roman gehört haben und mir Verlag anbieten; da können Sie einmal sehen, wie unsereiner Geschäfte macht; habe ich ja selbst schon oft Ihrem Pferdeeinkaufen beigewohnt.“
Der Stallmeister folgte; in einer Ecke sah er einen kleinen, bleichen Mann, der hastig an einem Rippchen zehrte und, so oft er einen Biß getan, Lippen und Finger ableckte; er erinnerte sich, diese Figur hie und da durch die Straßen schleichen gesehen zu haben, und hatte den Mann immer für einen Krämer gehalten; jetzt wurde ihm dieser als Buchhändler Kaper vorgestellt. Zur Verwunderung des Stallmeisters sprach er nicht zuerst den Dichter, sondern ihn selbst an: „Herr Stallmeister“, sagte er, „schon lange habe ich mich gesehnt, Ihre werte Bekanntschaft zu machen. Wenn Sie oft an meinem Gewölbe vorbeiritten, ritten, ich darf sagen, wie ein Gott, da sagte ich immer zu meinem Buchhalter, und auf Ehre, es ist wahr, ‚Winkelmann‘, sagte ich (Sie kennen ihn ja, Herr Doktor), ‚Winkelmann, es fehlt uns schon lange an einem tüchtigen Pferde- und Bereiterbuch. Der Pferdealmanach erscheint schon lange nicht mehr, und was letzthin der Herr Baptist bei den Kunstreitern geschrieben, ist auch mehr für Dilettanten, obgleich die Vignette schön ist‘ – Sie haben ja den Menschen persönlich gesehen, Herr Doktor; ‚nun‘, sagte ich, ‚ein solches Buch zu schreiben, wäre der Herr Stallmeister von Rempen ganz der Mann. Etwa fürs erste achtzehn – zwanzig Bogen, statt der Kupfer nehmen wir Lithographien –‘“
„Bemühen Sie sich nicht“, erwiderte der junge Rempen, mit Mühe das Lachen unterdrückend. „Ich bin zum Büchermachen verdorben; es geht mir nicht von der Hand, und überdies, Herr Kaper, bei unserem Metier, gerade bei unserem, muß der Jüngere sich bescheiden. Da kömmt es auf Erfahrung an.“
„Und ich dächte, Sie hätten Verlag genug“, sagte der Doktor, wie es schien, etwas ärgerlich, von dem Buchhändler nicht gleich beachtet worden zu sein.
„O ja, Herr Doktor, Verlag genug, was man so verlegene Bücher nennt, ich könnte Deutschland in allen Monaten, die ein R haben, mit Krebsen versehen; Sie wissen ja selbst.“
„Ich will nicht hoffen“, rief der Dichter hoch errötend, „daß Sie damit etwa mein griechisches Epos meinen –“
„Mit nichten, gewiß nicht, wir haben doch hundert etwa abgesetzt und die Kosten so ziemlich gedeckt, und der Herr Doktor werden mir nicht übelnehmen, wenn ich sage, es war eine frühe Arbeit, eine Jugendarbeit; hat doch auch Schiller nicht gleich mit dem ‚Tell‘ angefangen, sondern zuerst die ‚Räuber‘ geschrieben, und überdies noch die erste Ausgabe bei Schwan und Götz, wo Franz Moor noch in den Turm kömmt, die gar nicht so gut ist als die zweite; aber seit man Ihre vortreffliche Novelle in der ‚Amathusia für 27‘, seit man Ihre Rezensionen und Kritiken und die Sonette vor vier Wochen gelesen hat, läßt sich Großes erwarten.“
Der Dichter schien beruhigt. „Ich habe Sie immer für einen Mann von gesundem Urteil gehalten, Herr Kaper“, sprach er mit gütigem Lächeln; „haben Sie vielleicht schon von meinem neuen Roman gehört?“
„Ich habe, ich habe“, erwiderte der Buchhändler mit schlauer Miene; „und wo, raten Sie, wo ich davon gehört habe? Sie erraten nicht? Warum kommen denn der Herr Doktor so gerne in mein Gewölbe? Etwa wegen meiner Leihbibliothek, auf welche Sie immer zu schimpfen belieben, oder wegen des Vis-à-vis?“
„Wie!“ rief der junge Mann und drückte die Hand des Buchhändlers, „hätte etwa Elise –“
„Elise Wilkow, meinen Sie?“ fragte der Stallmeister, etwas näher rückend.
„Ja, meine Herren, Fräulein Wilkow“, fuhr Herr Kaper vertraulich flüsternd fort; „doch nicht zu laut, wenn ich bitten darf, denn soeben hat sich der Oberjustizreferendär Palvi dorthin gepflanzt in seine tägliche Ecke –“
„Welcher ist es?“ fragte der Stallmeister, sich umkehrend. „Ich hörte mancherlei von diesem Menschen, sonderbares Gerede von den einen und hohes Lob von andern; der junge Mann, der so düster in sein Glas sieht, ist Palvi?“
„Es ist nicht viel an ihm“, bemerkte der Dichter. „Auf der Universität – ich war noch ein Jahr mit ihm in Göttingen – war er so eine Art von Poetaster; einmal las ich ein paar gute Gedanken von ihm, die er zu einem Fest gemacht hatte; hier treibt er ein elendes, wüstes Leben und kömmt selten in gute Gesellschaft.“
„Aber gerade wegen Fräulein Wilkow dürfen wir vor ihm nicht zu laut werden“, flüsterte der Buchhändler. „Ich weiß, er kam, als er noch auf Schulen war, zuweilen hinüber ins Haus, und wie mir meine Tochter sagte, soll einmal ein Verhältnis zwischen den beiden Leutchen –“
„Wie –?“ rief der Stallmeister gespannt.
„Possen!“ entgegnete der Dichter, indem er auf seinen eleganten Anzug einen Blick herabwarf. „Er sieht aus wie ein Landstreicher; bringen Sie mir Elise auch nicht in Gedanken mit diesem Menschen zusammen. Ich weiß, sie liebt die Poesie; alles Erhabene, Schöne gefällt ihr, und sagen Sie aufrichtig, hat sie von meinem Roman gesprochen?“
„Sie hat, und wie! Sie ist ein belesenes Frauenzimmer, das muß man ihr lassen; keine in der ganzen Stadt ist so delikat in der Auswahl ihrer Lektüre. So kommt es, daß sie immer in einer Art von Verbindung mit mir steht, und wenn ich etwas Neues habe, bringe ich es gleich hinüber; denn ich selbst habe es in meinen alten Tagen gerne, wenn ein so schönes Kind‚ lieber Herr Kaper‘ zu mir sagt und gütig und freundlich ist. Es war letzten Sonntag, daß ich ihr den Roman ‚Die letzten Ritter von Marienburg‘ brachte, noch unaufgeschnitten, ich hatte ihn selbst noch nicht gelesen. Sie hatte eine kindliche Freude und sprach recht freundlich und viel. Und wie wir so plaudern, komme ich auch auf Ihre Novelle, welche sie ungemein lobte und Stil und Erfindung pries. Und so sagte sie denn, ob ich auch schon gehört, daß Sie einen neuen Roman schreiben?“
„Ja“, fiel der Dichter feurig ein, „und einen Roman schreibe, Kaper, wie Deutschland, Europa noch keinen besitzt!“
„Historisch doch?“ fragte der Buchhändler zweifelhaft.
„Historisch, rein geschichtlich; aber dies unter uns!“
„Historisch! Das möchte ich auch raten“, sprach der Verleger, eine große Prise nehmend. „Das ist gegenwärtig die Hauptsache. Wenn man es so bedenkt, es ist doch eine sonderbare Sache um den deutschen Buchhandel. Ich war Kommis in Leipzig, als ‚Wilhelm Meister‘ zuerst erschien. ‚Werther‘ und ‚Siegwart‘ waren Mode gewesen, hatten Nachahmung gefunden lange Zeit. Aber mein Prinzipal sagte: ‚Er wird sehen, Kaper‘ (damals sprach man noch per Er mit den Subjekten), ‚Er wird sehen, über kurz oder lang geschieht eine Veränderung.‘ So war’s auch; wir gaben anfänglich nicht viel um den ‚Wilhelm Meister‘, es schien uns ein gar konfuses Buch; aber siehe da, man schrieb allenthalben nach diesem Muster, und mancher hat sich ein schönes Stück Geld damit gemacht. Wieder eine Weile, ich hatte meine eigene Handlung etabliert, lag mir oft das Wort meines alten Prinzipals im Sinn: ‚Alles im Buchhandel ist nur Mode; wer eine neue angibt, ist Meister‘; wie ich mich noch auf etwas Neues besinne und einen Menschen suche, der etwas Tüchtiges schreiben täte – da haben wir’s, kömmt Fouqué mit den Helden und Altdeutschen, und alles machte nach. Und jetzt hat der Walter Scott wieder eine neue Mode gemacht. Ich möchte mir die Haare ausraufen, daß ich keine Taschenausgabe machte, und nichts bleibt übrig als etwa deutsche historische Romane; die gehen noch.“
„Fürwahr“, bemerkte der Stallmeister lächelnd, „so habe ich bisher ohne Brille gelesen, und der deutsche Parnaß ist in ganz andern Händen, als ich dachte. Nicht um das Interesse der Literatur scheint es sich zu handeln, sondern um das Interesse der Verkäufer?“
„Ist alles so ganz genau verknüpft“, antwortete Herr Kaper mit großer Ruhe, „hängt alles so fest zusammen, daß es sich um den Namen nicht handelt! Deutsche Literatur! Was ist sie denn anders, als was man alljährlich zweimal in Leipzig kauft und verkauft? Je weniger Krebse, desto besser das Buch, pflegen wir zu sagen im Buchhandel.“
„Aber der Ruhm?“ fragte der junge Rempen.
„Der Ruhm? Herr, was nützt mich Ruhm ohne Geld? Gebe ich eine Sammlung gelehrter Reisen mit Kupfern heraus, die mich schwer Geld kosten, so hat zwar meine Firma den Ruhm, das Buch verlegt zu haben. Aber wer kauft’s, wer nimmt’s, wer liest das Ding? Sechs Bibliotheken und ein paar Büchersammler, das ist alles, und wer geprellt ist, bin ich. Nein, Herr von Rempen! Eine vergriffene Auflage von einem Roman, eine Messe von höchstens dreißig Krebsen, das ist Ruhm, der echte, nämlich Ruhm mit Geld.“
„Das ist also ungefähr wie Tee mit Rum, es schmeck besser“, erwiderte der Stallmeister; „aber ich meinte den schriftstellerischen Ruhm.“
„I nun, das ist etwas anderes“, antwortete er, „den haben die Herrn neben dem Honorar umsonst. Und den weiß man sich zu machen, sehen Sie –“
2. Die Kritiker.
Doch die Forschungen des Herrn Kaper wurden hier auf eine unangenehme Weise durch einen Lärm unterbrochen, der im Laden des Italieners entstand. Neugierig sah man nach der Türe, welche durch ein Glasfenster einen Überblick über den unteren Teil des Gewölbes gewährte. Ein ältlicher und zwei jüngere Herren schienen im heftigen Streit begriffen; jeder sprach, jeder focht mit den Händen; der eine stürzte endlich mit hochgeröteten Wangen aus dem Laden, die beiden andern, noch keuchend vom Wortkampf, traten in das Gewölbe, wo die Freunde saßen.
„Herr Rat! Was ist mit Ihnen vorgefallen!“ rief Dr. Zundler beim Anblick des älteren Mannes, der, ein gedrucktes Blatt in der Hand zerknitternd, atemlos auf einen Stuhl sank. „Haben Sie denn nicht gelesen, Dr. Zundler?“ antwortete für den älteren der jüngere Mann, der unmutig und dröhnenden Schrittes im Zimmer auf und ab ging, „nicht gelesen, wie wir blamiert sind, nicht gelesen, daß man uns alle zusammen hier eine poetische Badegesellschaft, eine Bänkelsängerbande nennt?“
„Tod und Teufel!“ fuhr der Doktor auf. „Wer wagt es, diese Sprache zu führen? Wer wagt die ersten Geister der Nation auf diese Art zu benennen? Ich will nicht von mir sagen; was habe ich viel getan, um auf einigen Ruhm Anspruch machen zu können? Aber was für andere Männer finden sich hier! Sind es nicht – die schönsten Zierden der Nation? So jung Sie sind, Professor, sind denn nicht alle Blätter voll Ihres Lobes wegen Ihrer Trauerspiele, und unser Rat –“
„Aber büßen sollen sie es mir, büßen“, rief der letztere, „so wahr ich lebe, und, Zundler, Sie müssen mithelfen und alle, die ins Freitagskränzchen kommen. Hab’ ich es mir darum sauer werden lassen zwanzig Jahre lang, daß man jetzt über mich herfällt, und wegen nichts als wegen der Rezension über den dummen Roman ‚Die letzten Ritter von Marienburg‘, sonst wegen nichts!“
„Die letzten Ritter von Marienburg“, fragte der Buchhändler, der als Mann vom Fache mitsprechen zu müssen glaubte; „mich gehorsamst zu empfehlen, Herr Rat; aber ist es nicht bei Wenz in Leipzig erschienen, drei Bände Oktav, Preis vier Taler netto?“
„Und ich will nun einmal diese Schule nicht aufkommen lassen“, fuhr der Erboste fort, ohne auf Herrn Kaper zu hören; „woher kömmt es, daß man keine Verse mehr lesen will, daß man die Lyrik verachtet, sei sie auch noch so duftig und gefeilt, daß man über die tiefsinnigsten Sonette weggeht wie über Lückenbüßer, woher als von diesen Neuerungen?“
„Aber so zeigen Sie doch, ich bitte“, flüsterte der Doktor, das zerknitterte Papier fassend; „ist es denn wirklich so arg, so niederschlagend?“
„Lesen Sie immer“, erwiderte der Rat gefaßter, „lesen Sie meinetwegen laut, es ist doch in jedermanns Händen; die Herren sind ja ohnedies Zeugen meines Schmerzens gewesen und mögen auch Zeugen sein, wie man Redakteur und Mitarbeiter eines der gelesensten Blätter behandelt!“
„Der junge Mann entrollte das Blatt. „Wie? In den ‚Blättern für literarische Unterhaltung‘? Nein, das hätte ich mir nicht träumen lassen; die waren ja sonst immer so nachbarlich, so freundlich mit uns! Ist es die Kritik, die anfängt ‚Ehe wir noch dieses Buch –‘“
„Eben diese, nur zu!“
„Die letzten Ritter von Marienburg, historischer Roman von Hüon. 3 Bände. Leipzig. Fr. Wenz.
„Ehe wir noch dieses Buch in die Hände bekamen, lasen wir in den ‚Blättern für belletristisches Vergnügen‘ eine Kritik, welche uns beinahe den Mut benahm, diesen dreibändigen historischen Roman nur zu durchblättern. Man kann zwar gewöhnlich auf das Urteil dieser Blätter nicht viel halten. Es sind so wenige Männer von Gehalt dabei beschäftigt, daß der wissenschaftlich Gebildete von diesen Urteilen sich nie bestimmen lassen kann; doch machte diese Kritik eine Ausnahme. Es ist nämlich eine Seltenheit, daß die ‚Blätter für belletristisches Vergnügen‘ etwas durchaus tadeln; selten ist ihnen etwas schlecht genug; aber diesmal hieben sie so unbarmherzig und greulich hinein, daß wir im ersten Augenblick, auf die kritische Ehrlichkeit solcher Leute trauend, glaubten, dieser Roman müsse die tiefste Saite der Schlechtigkeit berührt haben. Doch zu einer guten Stunde entschlossen wir uns, nachzusehen, wie tief man es in der deutschen Literatur dermalen gebracht habe. Wir lasen. Aber welch ein Geist wehte uns aus diesen Blättern an! Welch mächtiges, erhabenes Gebäude stieg vor unseren Blicken auf, ein Gebäude in so hohem, erhabenem Stil, wie die Marienburg selbst; wir fühlten uns fortgerissen, versetzt in ihre Hallen; der letzte Großkomtur und seine Ritter traten uns lebend entgegen, und noch einmal ertönte jene alte Feste vom Waffenspiel und den kräftigen Stimmen ihrer tapfern Bewohner. Wir wollen den Dichter nicht tadeln, daß ein Hauch von Melancholie über seinem Gemälde schwebt, der keine laute Freude, kein behagliches Vergnügen gestattet. Wo ein so großartiges Schicksal waltet, wo ein ganzes, großes Geschlecht untergeht, da muß ja wohl auch die zarte Liebe, die nur einen Frühling blühte, mit zu Grabe gehen. In diesem außerordentlichen Buche ist ein Geist unter uns getreten, so originell, so groß, so frei, daß er keine Vergleichung zuläßt. Er nennt sich Hüon, zwar ein angenommener Name, aber gut gewählt; denn der Verfasser scheint uns nicht minder würdig, von Oberon mit Horn und Becher beschenkt zu werden, als jener tapfere Paladin Karls des Großen. Mit Vergnügen müssen einen solchen Jünger Meister wie Goethe und Tieck willkommen heißen, und unsere Zeit darf sich glücklich preisen, einen Mann wie diesen geboren zu haben.
Aber mit tiefer Indignation müssen wir hierbei einer Clique von Menschen gedenken, die diese edle Blume schon in ihrem Keim in den Staub drücken wollten. Freilich ist er euch zu groß, zu erhaben, ihr kleinen belletristischen Seelen; möge immer diese poetische Badegesellschaft in ihrem lauen Versewasser auf- und niedertauchen, nur bespritze sie nicht mit ihrem Schlammwasser den Wanderer, der am Ufer geht und sich verachtend abwendet. Ein Glück ist es übrigens, daß man anfängt, in der guten Gesellschaft auf reinere Melodien zu horchen, daß man diese Bänkelsänger dem Straßenpöbel überläßt. 190.“
Für den Stallmeister war es ein interessantes Schauspiel, die Gesichter der Zuhörer zu mustern, während der Dichter mit schnarrendem Tone diese Kritik ablas. Der Buchhändler, der ihm zunächst saß, versteckte schlecht seine Neugierde und eine gewisse Behaglichkeit hinter einer unmutigen Miene. Vielleicht hatte ihm der Hofrat einmal ein Verlagswerk schlecht rezensiert, oder der Theaterdichter hatte ihm nichts zum Verlegen gegeben, oder irgend einer der „Badegesellschaft“ hatte ihn beleidigt; er dachte wie so viele kleine Seelen im ähnlichen Falle: „Gottlob, es ist dafür gesorgt, daß die Rezensenten sich immer selbst wieder rezensieren.“ Der Rat hatte den Mund auf den Stockknopf gepreßt, und seine Augen irrten auf dem Boden; der Theaterdichter zwang sich zu einer Art von vornehmer Ruhe, die ihm vorhin völlig gefehlt hatte; sein „Ohe“ oder „Ei“, das er hin und wieder mit einem kurzen Lachen herauspreßte, klang unnatürlich. Am merkwürdigsten war dem jungen Rempen ein stiller Zuhörer, der scheinbar ohne Teilnahme in der Ecke saß, der Referendär Palvi. Als der Doktor zu lesen anhub, lauschte er mit niedergeschlagenen Augen; dann ergoß sich plötzlich eine brennende Röte über seine Stirne und Wangen; sie verschwand ebenso schnell als der glänzende Blick seiner großen Augen, den er auf den Lesenden warf, und wer diesen Blick, dieses flüchtige Erröten nicht gesehen, konnte vor- und nachher glauben, er schenke weder diesen Literatoren noch der Ursache ihres Aufbrausens einige Aufmerksamkeit.
„Nun, was sagen Sie dazu?“ fragte der Theaterdichter, nachdem Dr. Zundler geendet hatte. „Sie sind ja auch mit gemeint, denn zahlreiche Stanzen, Sonette, Triolette und Kritiken finden sich von Ihrer Arbeit in den ‚Blättern fürs belletristische Vergnügen‘.“
„Schweigen kann man nicht!“ rief der Doktor entrüstet. „Ja, wir stehen alle für einen, und alle, die ins Freitagskränzchen kommen, müssen beleidigt sein, müssen sich rächen. Ich habe in Berlin einen Bekannten; in den ‚Gesellschafter‘ lass’ ich es rücken durch die dritte Hand, oder vielleicht nimmt es Dr. Saphir in die ‚Schnellpost‘ auf; ich kenn’ ihn noch von Wien.“
„In meinen Theaterkritiken mache ich Ausfälle“, fuhr der Theaterdichter fort; „ah! wenn nur Marienburg nicht preußisch wäre, ich wollte mich rächen, wollte, oh! aber so könnte man alles für Anzüglichkeit nehmen. Und gegen die ‚Blätter für literarische Unterhaltung‘ kann ich nicht offen schimpfen; ich habe noch drei Trauerspiele dort liegen, die noch nicht rezensiert sind. Aber wo ein Loch offen ist, will ich einen Ausfall machen!“
„Ich will untergehen“, sagte der Rat pathetisch, indem er seinen Wein bezahlte und den Hut ergriff, „fallen will ich oder siegreich hervorschreiten aus diesem Kampf. Die ganze Lyrik ist in mir beleidigt, auch alle Romantiker, denn wir haben auch Romanzen gemacht, und diese Hermaphroditen von Geschichte und Dichtung, diese Novellenprosaiker, diese Scott-Tieckianer, diese – genug, ich werde sie stürzen; und damit guten Morgen!“
Als dieser Rat nach seinem dixi mit vorgeschobenen Knien aus dem Zimmer ging, war er zwar nicht anzusehen wie ein Ritter, der zum Turnier schreitet; der Professor aber und der Doktor Zundler folgten ihm in schweigender Majestät; sie schienen als seine Knappen oder Pagen Schild und Lanze dem neuen Orlando furioso nachzutragen.
3. Ein prosaisches Herz.
Bei dem Stallmeister hatte diese Szene, nachdem das Komische, was sie enthielt, bald verflogen war, einen störenden, unangenehmen Eindruck hinterlassen. Er hatte sich mit der schönen Literatur von jeher gerade nur soviel befaßt, als ihm nötig schien, um nicht für ungebildet zu gelten; und auch hier war er mehr seiner Neigung als dem herrschenden Geschmacke gefolgt. Er wußte wohl, daß man ihn bemitleiden würde, wollte er öffentlich gestehen, daß er Smollets „Peregrine Pickle“ für den besten Roman und einige sangbare Lieder von Kleist für die angenehmsten Gedichte halte; er behielt dieses Geheimnis für sich, brummte, wenn er morgens ausritt, sein Liedchen, ohne zu wissen, welcher Klasse der Lyrik es angehöre, und las, wenn er sich einmal ein literarisches Fest bereiten wollte, ausgesuchte Szenen im „Peregrine Pickle“. Ein paar Almanachs, ein paar schöngeistige Zeitschriften durchflog er, um, wenn er darüber befragt wurde, nicht erröten zu müssen. So kam es, daß er vor Schriftstellern oder Leuten, „die etwas drucken ließen“, große Ehrfurcht hatte; denn seine Seele war zu ehrlich, um ohne Gründe von Menschen schlecht zu denken, deren Beschäftigung ihm so fremd war als der Hippogryph seinen Ställen. Um so verletzender wirkte auf ihn der Anblick dieser erbosten Literatoren. „Man tadelt es an Schauspielern“, sprach er zu sich, „daß sie außerhalb des Theaters oft roh und ungebildet sich zeigen, daß sie Tadel, auch den gerechten, nicht ertragen wollen und öffentlich darüber schimpfen und schelten. Aber zeigten sich denn diese Leute besser? Ist es nicht an sich schon fatal, seinen Unmut über eine Beschimpfung zu äußern? Muß man das Wirtshaus zum Schauplatz seiner Wut machen und sich so weit vergessen, daß man wie ein Betrunkener sich geberdet? Und wie schön ließen diese Leute sich in die Karten sehen! Also weil sie beleidigt sind (vielleicht mit Recht), wollen sie wieder beleidigen, wollen ihre Privatsache zu einer öffentlichen machen? Das also sind die Leiter der Bildung, das die feinfühlenden Dichter, die, wie Freund Zundler sagt, Instrumente sind, die nie einen Mißton von sich geben?“
Nicht ohne Kummer dachte er dabei an ein Wesen, das ihm vor allen teuer war. Der Buchhändler hatte nicht mit Unrecht geäußert, daß Elise Wilkow ein sehr belesenes Frauenzimmer sei. Nach Rempens Ansichten über die Stellung und den Wert der Frauen schien sie ihm beinahe zu gelehrt, in Stunden des Unmuts nannte er es wohl gar überbildet. Er hatte es niemand, kaum sich selbst gestanden, daß sie seine stillen Huldigungen nicht unbemerkt ließ, daß sie ihm manchen gütigen Blick schenkte, aus dem er vieles deuten konnte. Er war zu bescheiden, um zu glauben, daß dieses liebenswürdige Geschöpf ihn lieben könnte, und dennoch verletzte ihn ihr ungleiches, zweifelhaftes Betragen. Es war eine gewisse Koketterie des Geistes, die das liebenswürdige Mädchen in seinen Augen entstellte. Wenn er zuweilen in freundlichem Geplauder mit ihr war, wenn sie so traulich, so natürlich ihm von ihrem Hauswesen, ihren Blumen, ihren Vergnügungen erzählte, wenn er sich ganz selig fühlte, daß sie so lange, so gerne zu ihm spreche, so führte gewiß ein feindlicher Dämon einen jener Literatoren oder Dichter herbei, deren diese gute Stadt zwei Dutzende zählte, und Elise war wie ausgetauscht. Ihre schönen Augen schimmerten dann vor Vergnügen, ihr schlanker Hals bog sich vor, und ohne auf eine Frage des guten Stallmeisters zu achten, ohne seine Antwort abzuwarten, befand man sich mit Blitzesschnelle in einem kritischen oder literarischen Geplänkel, wo Rempen die ungemeine Belesenheit, das schnelle Urteil, den glänzenden Witz seiner Dame bewundern, sie selbst aber bedauern mußte, daß sie dieser Art von Gespräch, diesem gesuchten Vergnügen sichtbarer entgegenkam, als es sich für ein Mädchen von achtzehn Jahren schickte.
„Und an dieses Volk, an diesen literarischen Pöbel, wirft sie ihre glänzendsten Gedanken, ihre zartesten Empfindungen, wirft sie Blicke und Worte weg, die einen andern als diese gedruckten Seelen überglücklich machen würden. Und fühlen sie es denn? sind sie dadurch geehrt, entzückt? Nur mit ihnen spricht sie über das, was sie gelesen, als ob sonst niemand lesen könnte, nur ihnen zeigt sie, was sie gefühlt, als ob gerade diese Versmacher und Rezensenten die gefühlvollsten Leute wären und ein so schönes, liebenswürdiges Wesen zu würdigen verständen. Nein, diese Toren sehen es überdies noch als einen schuldigen Tribut, als eine geringe Anerkennung ihrer eminenten Verdienste an, wenn die Krone aller Mädchen mit ihnen schwatzt wie mit ihresgleichen, während andere wackere Leute in der Ferne stehen. Und diese Menschen, die sich heute so niedrig geberdeten, bilden ihren Hofstaat, dies sind die genialen Männer, mit welchen sie so gerne spricht!“
Diese Gedanken beschäftigten ihn den ganzen Tag. Sein Stallpersonale konnte sich heute gar nicht in ihn finden. Der gutmütige, milde Herr war zu einem rauhen, mürrischen Gebieter geworden. Die Stallknechte klagten es sich beim Füttern; acht Pferde hatte er hinausgejagt durch dick und dünn, und jedes hatte einen andern Fehler gehabt; die Bereiter hatte er zum erstenmal streng getadelt, und als es Abend wurde, war man im Stall darüber einig, dem Stallmeister von Rempen müsse etwas Außerordentliches begegnet sein, vielleicht sei er sogar in Ungnade gefallen. Man bedauerte ihn, denn sein leutseliges Wesen hatte ihn zum Liebling seiner Untergebenen gemacht.
Und wahrlich! der Abend dieses Tages war nicht dazu gemacht, diese düsteren Gedanken zu zerstreuen. Der Geheimerat von Rempen, sein Oheim, gab alle vierzehn Tage einen großen Klub, in welchem er, das Unmögliche möglich zu machen, die getrenntesten Extreme zu vereinigen suchte; dieser Klub hatte sich früher in drei verschiedene Abteilungen getrennt. Es war in jener Stadt eine literarische Sozietät, deren Mitglied der alte Rempen war; sie versammelte sich, um zu lesen, zu rezensieren, gelehrt zu sprechen; an einem andern Tage war großer, umwechselnder Singtee, an einem dritten Abend Tanzunterhaltung. „Tria juncta in uno, drei Köpfe unter einem Hut“, sagte der alte Rempen und lud sie alle zusammen ein. Der bunteste Wechsel schien ihm die interessanteste Unterhaltung, und darum preßte er wie ein Seelenverkäufer Literatoren, Soldaten, Justizleute, lese-, gesang- und tanzlustige Damen und packte sie in seinen Salon zusammen zu Tee und Butterbrot, in der festen Überzeugung, die wahre Springwurzel der Unterhaltung gefunden zu haben. Für seinen Neffen aber vereinigten sich Himmel und Fegfeuer in diesem Klub. Er hörte Elisen singen; seine nahe Verwandtschaft zu dem alten Rempen, der keinen Sohn hatte, machte es ihm möglich, wie ein Kind des Hauses, nicht wie ein Gast aufzutreten und mit Elisen ungestört zu tanzen und zu plaudern. Aber seine Höllenqualen begannen, wenn er den Oheim, umgeben von einem Kreise älterer und jüngerer Herren, mit wichtiger Miene etwas erklären sah, wenn er endlich ein Buch aus der Tasche zog, durchblätterte, es im Kreise umherzeigte und die Herren vor Freude stöhnten – „Ah – etwas Neues, schon gelesen? Göttlich, vorlesen, bitte vorlesen, Professor am besten lesen – in den Saal und lesen.“ – „Lesen, vorlesen!“ tönte es dann von dem Munde älterer Damen und jener Herren, die nicht tanzen wollten, und Elise – nahm mit einer kurzen Verbeugung Abschied, drängte sich in den literarischen Kreis, wurde als Königin des guten Geschmacks begrüßt, hatte gewöhnlich das Buch schon gelesen, stimmte für die Vorlesung und war für den armen Stallmeister auf den ganzen Abend verloren.
Mit diesen trüben Erinnerungen gelangte er an das Haus seines Oheims. Er war eben im Begriff, einzutreten, als das Gespräch zweier Männer, die sich diesem Hause näherten, seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Soviel der matte Schein einer fernen Laterne erraten ließ, war der eine ein ältlicher, dürftig gekleideter Mann, der andere jünger, höher und festlich gekleidet.
„Brüderchen!“ sprach der ältere mit einem Akzent, der nicht dieser Gegend angehörte; „Brüderchen, bleib mir aus dem fatalen Haus! So oft Ihr wieder herauskommt, seid Ihr zwei, drei Tage ein geschlagener Mann. Laß die Bursche dort oben in Gotts Namen auf Stelzen gehen und Unsinn schwatzen, bleibet aber nur Ihr hinweg, ’s ist noch Euer Tod!“
„Ich muß sie sehen, Alter!“ sprach der Jüngere, „ich muß sie hören. Es gehört zu meinem Glück, sie gesehen zu haben.“
„Ihr seid ein Narr!“ erwiderte der andere, „sie mag Euch nicht, sie will Euch nicht. Ihr seid ein armer Teufel und gehört nicht in diese Sozietät. Aber fassen kann ich Euch nicht! ’s gehört ein Wort dazu, nur ein Wörtchen, ein bißchen von einem Geständnis, und Ihr könnt vielleicht glücklich sein. Geh fort, geh fort; scherwenze in der nobeln Welt, werde ein Schuft wie alle und vergiß den alten, armen Bunker, lebe wohl, will nichts mehr von dir.“
Er wollte unmutig weggehen, aber der junge Mann hielt ihn auf. „Sei vernünftig“, bat er; „willst auch du mich noch elend machen? Tu es immer, laß mich liegen wie einen Hund, wenn du es über dein Herz vermagst. Ich bin ja ohnedies unglücklich genug.“ – „Jammere nur nicht so!“ sprach der Alte gerührt. „Geh hinauf, wenn du es nicht lassen kannst; aber bleibe nicht da, wenn sie vorlesen, du ärgerst dich! Komm zu mir!“
„Ich komme“, erwiderte der Jüngere nach einigem Nachsinnen. „Um zehn Uhr will ich kommen. Wohin?“
„Heute in den Entenzapfen; im Rosmarin ist heilloses Volk, Schneider und Schuster und die Affen und Bären aus den Druckereien, es ist heute Montag. Aber Brüderchen, im Entenzapfen ist Cerevis, man trinkt es in Augsburg nicht besser.“
Ein Wagen mit hellglänzenden Laternen rollte in diesem Augenblick auf das Haus zu; der junge Mann sagte eilig zu, und der alte schlich langsam die Straße hin. Der Stallmeister konnte sich kaum von seinem Erstaunen erholen. Wer konnte aus so sonderbarer Gesellschaft in den Tanzsaal seines Oheims kommen? Noch sonderbarer schien es ihm, daß man diesen glänzenden Klub, der alle geistreiche und noble Welt der Stadt vereinigte, verlassen wollte, um in dem Entenzapfen Bier zu trinken, in einer Winkelkneipe, die er kaum dreimal von seinen Stallknechten hatte rühmen gehört. Er setzte dem sonderbaren Gast, der flüchtig die Treppe hinaneilte, nach, er holte ihn im hell erleuchteten Korridor ein, er ging an ihm vorüber, sah sich um und erblickte das düstere Auge und die markierten Züge des Referendärs Palvi.
Verworrene Gedanken flogen vor seiner Seele vorüber, als er ihn erkannte; seine Worte: „Ich muß sie sehen“, der Wink des Buchhändlers, Palvi sei früher in einem Verhältnis zu Elisen gestanden, Staunen über die sonderbaren Reden mit dem Alten, wunderliche Sagen, die er früher über diesen Palvi vernommen, alle diese Gedanken wollten auf einmal zur Klarheit dringen und machten, daß er sich vornahm, über eines wenigstens sich diesen Abend Gewißheit zu verschaffen, über sein Verhältnis zu Elisen.
4. Ein Singtee.
Der größte Teil der Gesellschaft hatte sich schon versammelt, als die jungen Männer eintraten. Des Stallmeisters scharfes Auge durchirrte den Damenkreis, der an den Wänden hin sich ausbreitete; er fand endlich Elisen an einem fernen Fenster im Gespräch mit seiner Tante; aber ihr schönes Gesicht hatte nicht den Ausdruck von Heiterkeit und Laune, die er sonst so gerne sah, sie lächelte nicht, sie schien verstimmt. Es kostete ihn einige künstlich angeknüpfte Gespräche, einige Neuigkeiten vom Hofe, im Vorübergehen erzählt, um sich an jenes Fenster durchzuwinden.
Die Tante sprach so eifrig, Elise hörte so aufmerksam zu, daß er endlich die herabhängende Hand der Tante erfassen und ehrerbietig küssen mußte, um sich bemerklich zu machen. Elisens Wangen glühten, als sie ihn erblickte, und die Tante rief staunend: „Wie gerufen, Julius! Ich sprach soeben mit dem Fräulein von dir, du kannst dir etwas darauf einbilden, so gut wird es dir nicht alle Tage.“
„Und was war der Inhalt ihres Gespräches, wenn man fragen darf?“
„Deine Klagen von letzthin“, erwiderte die Tante lachend. „Dein Kummer, daß dich das Fräulein mitten in der Rede stehen gelassen habe, um mit irgend einem eminenten Dichter zu verkehren. Doch am besten machst du dies mit Fräulein Elise selbst aus“, setzte sie hinzu und ging weiter.
Elise schien sich wirklich einer kleinen Schuld bewußt, denn sie schlug die Augen nieder und zögerte zu sprechen; als aber Rempen bei seinem unmutigen Schweigen verharrte, sagte sie halb lächelnd, halb verlegen: „Ich gestehe, es war nicht artig, und sicher würde ich es mir gegen einen Fremden nicht erlaubt haben; aber daß Sie mir dergleichen übelnehmen, da Sie meine Weise doch kennen –“
„So stünde ich Ihnen denn näher als jene gelehrten und berühmten Herren?“ erwiderte er freudig bewegt. „Darf es sogar als ein Zeichen Ihres Zutrauens nehmen, wenn Sie mich so plötzlich verlassen, um zu jenen zu sprechen?“
„Sie sind zu schnell, Herr Stallmeister!“ sagte sie. „Ich meinte nur, weil sie meine Eltern kennen und ich viel zu Ihrer Tante komme, müsse man die Konvenienz nicht so genau berechnen. Und muß man denn im Leben alles so ängstlich berechnen?“
Sie bemerkte dies halb zerstreut, und es entging Rempen nicht, daß ihr Auge eine andere Richtung genommen habe, als zu ihrer Rede passe; er verfolgte diesen Blick und traf auf Palvi, der mit einem ältlichen Herrn sprach und zugleich seine Blicke brennend und düster auf Elisen heftete. Ein tiefer Atemzug stahl sich aus ihrer Brust, als sie ihre Augen, die weder zärtlich noch freudig glänzten, von ihm abwandte. Sie errötete, als sie bemerkte, wie ihr Nachbar die Richtung ihrer Blicke bemerkt habe, und halb verlegen, halb zerstreut flüsterte sie: „Wie kömmt doch er hieher zu Ihrem Onkel?“
Der Stallmeister war so boshaft, sie zu fragen, wen sie denn meine.
„Den Referendär Palvi“, antwortete sie leichthin, als wollte sie ihre vorige Frage verbessern, „er ist vielleicht mit Ihrem Hause bekannt?“
„Ich kenn’ ihn nicht“, erwiderte der Stallmeister etwas ernst; „doch warum sollte er nicht hier sein? Kennen Sie ihn vielleicht? Man sagt, es sei ein Mann von schönen Talenten, der –“
„Wie freut es mich, dich wieder gesund zu sehen, Klotilde!“ rief seine Nachbarin und hüpfte auf ein Mädchen zu, das sechs Schritte von ihr entfernt stand; verblüfft, als hätte er einen dummen Streich begangen, stand der Stallmeister und sah ihr nach.
Man hatte indessen um Ruhe und Stille gebeten; ein Fräulein von kleiner Gestalt, aber gewaltiger Stimme wollte sich hören lassen und stellte sich zu diesem Zweck auf ein gepolstertes Fußbänkchen hinter ein elegantes Notenpult. Die Männer setzten sich Stühle hinter die Frauen, die Frauen machten erwartungsvolle Mienen, und es war so tiefe Stille in dem großen Zimmer, daß man nur die Bedienten hin und wieder: „Ist’s gefällig?“ brummen hörte, wenn sie Tee anboten. Beim ersten Takt, den man zur Begleitung des kleinen Fräuleins auf dem Flügel anschlug, entwich der junge Rempen in ein Nebenzimmer, um ungestört seinen Gedanken nachzuhängen; er zog weiter, wandelte ein paar Mal im Salon auf und ab, bog dann in die nächste Türe, dem Ende der Enfilade zu. Im letzten Zimmer saß ein Mann in einem Sofa, der die Stirne in die Hand gelegt hatte. Bei Rempens Nähertreten wendete er den Kopf, und den Stallmeister hatte seine schnelle Ahnung nicht betrogen, es war Palvi.
„Auch Sie scheinen die Musik nicht in der Nähe zu lieben“, sagte Julius, indem er sich zu ihm auf das Ruhebett setzte; „kaum bis hierher klingen die zärteren Töne.“
„Es geht mir damit wie mit dem Geruch starkduftender Blumen“, erwiderte Palvi mit angenehmer Stimme. „Mit diesen Düften in einem verschlossenen Zimmer zu sein, macht mich krank und traurig, aber im Freien, so aus der Ferne, atme ich ihren Balsam mit Wollust ein, ich unterscheide und errate dann jede einzelne Nuance, ich möchte sagen, jede Schattierung, jeden Ton, jeden Übergang des Geruches.“
„Sie haben recht, jede Musik gewinnt durch Entfernung“, bemerkte Rempen; „aber das Jammervollste ist mir, jemand singen sehen zu müssen. Besonders ängstigt mich die kleine Person, die jetzt eben etwas vorträgt. Sie ist nett, beinahe zierlich gebaut, aber alle Glieder en miniature. Nun stellt man sie immer auf ein Fußbänkchen, damit sie gesehen wird. Hinter ihr steht der Musikdirektor mit der Violine. Von Anfang macht es sich ganz gut. Der Direktor spielt piano und verzieht höchstens den Mund links und rechts nach dem Strich seines Fiedelbogens, nach und nach kömmt er ins Feuer: ‚Forte, piu forte‘, flüstert er und wackelt mit dem Kopf; jetzt fängt auch die Kleine an, sich zu heben; anfänglich wiegt sie sich auf den Zehen und bewegt die Ellbogen, als nähme sie einen kleinen Ansatz zum Fliegen; doch crescendo mit des Musikers Perpendikularbewegungen schreiten ihre Geberden vor, sie weht und rudert mit den Armen, sie hebt und senkt sich, bis sie im höchsten Ton auf den Zehenspitzen aushält und – wie leicht kann da die Fußbank umschlagen!“
Der Referendär lächelte flüchtig. „Beinahe noch verschiedener als beim Lachen geberden sich die Menschen, wenn sie singen“, sagte er. „Haben Sie nie in einer evangelischen Kirche die Mienen der Weiber unter dem Gesang betrachtet? Betrachten Sie ein zartes, schwärmerisches Kind von sechzehn Jahren, das mit rundgewölbten Lippen, Frieden und Andacht in den Zügen, die zarten Wimpern über die feuchten Augen herabgesenkt, ihren Schöpfer lobt. Sie können aus den vielen Hunderten ihre Stimme nicht herausfinden, und doch sind Sie überzeugt, sie müsse weich, leise, melodisch sein. Setzen Sie neben das Kind zwei ältliche Frauen, die eine wohlbeleibt, mit gutgenährten Wangen und Doppelkinn, die Augen gerade vor sich hinstarrend, die andere etwas vergelbt, mit runzlichen, dürren Zügen und spitzigem Kinn, auf die gebogene Nase eine Brille geklemmt – und Sie werden erraten können, daß die Dicke einen hübschen Baßton murmelnd singt, die andere in die höchsten Nasentöne und Triller hinaufsteigt.“
„Sie scheinen genau zu beobachten“, antwortete lachend der Stallmeister. „Es fehlt nur noch, daß Sie die dicke Frau mit dem murmelnden Baßton für die Mutter der Kleinen, die spitzige aber für ihre ledige Tante ausgeben, eine alte Jungfer, die nicht sowohl von unserem Herrgott als von den Nachbarinnen gehört sein will. Was sagen Sie aber zu der sonderbaren Gewohnheit der Primadonna unserer Oper? In den tiefen Tönen ist ihr hübsches Gesicht ernsthaft, beinahe melancholisch, wenn sie aber aufsteigt, klärt es sich auf, und hat sie nur erst die oberen Doppeltgestrichenen hinter sich, so schließt sie die Augen wie zu einem seligen Traum, sie lächelt freundlich und hold, und lächelt, bis sie wieder abwärts geht. Gleichgültig ist ihr dabei, was sie für Worte singt. Sie könnte in den tiefsten Tönen ‚Ich liebe dich, meines Herzens Wonne‘, singen und ungemein ernsthaft dabei aussehen, und könnte ebenso leicht ‚Ich sterbe, Verräter!‘ in den höchsten Rouladen schreien und ganz hold und anmutig dazu lächeln. Wie erklären Sie dies?“
„Es ist nicht schwer zu erklären“, entgegnete Palvi nach einigem Nachsinnen, „die tiefen Töne fallen ihr etwas schwer; sie muß noch drücken, etwa wie man einen großen Bissen hinabwürgt, und unmöglich kann sie das mit heiterem Gesicht; mit den hohen Tönen geht es aber wohl folgendermaßen zu: Als sie noch jung war und die höheren Töne sich erst in ihrer echten Kraft bildeten, mochte sie einen Lehrmeister gehabt haben, der ihr unerbittlich alle Tage die Skala bis oben hinauf vorgeigte. Für einen klaren höchsten Ton bekam sie wohl ein Stück Kuchen, ein Tuch oder sonst dergleichen etwas; je höher sie es nun brachte, desto freudiger strahlte ihr Gesicht vor Vergnügen über ihre eigenen Töne, und so mochte sie sich angewöhnt haben, mit der freundlichsten Miene zu singen: ‚Ich verzweifle‘.“
In diesem Augenblick ertönte eine reine, volle Frauenstimme in so schmelzenden, süßen Tönen, daß die beiden Männer unwillkürlich ihre Rede unterbrachen und lauschten. Eine leichte Röte flog über Rempens Gesicht, denn er erkannte diese Stimme. Sein Auge begegnete dem dunkeln Auge Palvis, das wohl eine Weile prüfend auf seinen Zügen verweilt haben mochte.
„Kennen Sie die Stimme?“ fragte Rempen etwas befangen.
„Ich kenne sie“, erwiderte jener und stand auf.
„Und wollen Sie sich den Genuß vermindern und näher treten?“
„Ich möchte wohl auch die Worte des Textes hören“, entschuldigte sich jener nicht ohne Verlegenheit.
Der Stallmeister folgte ihm; Palvi schwebte schnellen, aber leisen Schrittes über den Boden hin und setzte sich unweit des Zimmers wieder, wo Elise sang, auf ein Bankett, indem er Rempen durch einen stummen Wink einlud, sich neben ihn zu setzen. Sie lauschten; es war die bekannte Melodie einer jener alten französischen Romanzen, die, indem sie durch ihren ungekünstelten Wohllaut dem Ohre schmeicheln, in mutigen Tönen das Herz erheben; aber ein deutscher Text war untergelegt, Worte, von welchen die Sängerin selbst wunderbar ergriffen schien, denn sie trug sie mit einem Feuer vor, das ihre Zuhörer mit erfaßte.
Der junge Rempen fühlte sein Herz von Liebe zu der Sängerin wie von dem hohen Schwung ihres Gesanges mächtiger gehoben; aber mit Verwunderung und Neugierde sah er die tiefe Bewegung, die sich auf den Zügen seines Nachbars ausdrückte. Seine Augen strahlten, sein Haupt hatte sich mutig und stolz aufgerichtet, und um Wangen und Stirne wogte eine dunkle Röte auf und ab, jene Röte, die ein erfülltes, von irgend einer mächtigen Freude überraschtes Herz verrät.
Mit gekrümmtem Rücken, auf den Zehenspitzen schlich jetzt der Oheim Rempen heran. Schon von weitem drückte er seinem Neffen durch beredtes Mienenspiel seinen Beifall über den herrlichen Gesang aus, und als er nahe genug war, flüsterte er: „Heute singt sie wieder die Pasta, voll Glut, voll Glut; und der schöne Text, den sie untergelegt hat! er ist aus einem neuen Roman, ‚Die letzten Ritter von Marienburg‘.“
Der junge Mann winkte seinem Oheim ungeduldig, stille zu sein; der Alte schlich weiter zu einer andern Gruppe, und die beiden lauschten wieder ungestört, bis der Gesang geendet war.
5. Die letzten Ritter von Marienburg.
Rauschender Beifall füllte nun das Gemach, man drängte sich um die Sängerin, und auch Rempen folgte seinem Herzen, das ihn zu Elisen zog. Aber schon war sie von einem halb Dutzend jener Literatoren umlagert, die ihn immer verdrängten. „Welch herrliches Lied!“ hörte er den Doktor Zundler sagen, „welche Kraft, welche Fülle von Mut, und wie zart gehalten!“ Doch dem Stallmeister entging nicht, daß der Hofrat, der ebenfalls bei der Gruppe stand, den jungen Doktor durch einen freundschaftlichen Rippenstoß aufmerksam darauf zu machen schien, daß er etwas Ungeschicktes gesagt habe. Er erschrak, errötete und fragte in befangener Verlegenheit, woher das Fräulein das schöne Lied habe.
„Es ist aus den ‚Letzten Rittern von Marienburg‘, von Hüon.“ Ein Gemurmel des Staunens und Beifalls lief durch die dichten Massen, als man diesen Titel hörte. „Wie ein neuer Roman?“ – „Ah! derselbe, welchen die ‚Blätter fürs belletristische Vergnügen‘ so tüchtig ausg– Sie sind ja da, leise, leise.“ – – „Wo kann man den Roman sehen?“ – So wogte das Gespräch und Geflüster auf und ab, bis der Wirt des Hauses mit triumphierendem Lächeln ein Damenkörbchen an seidenen Bändern in die Höhe hielt, es öffnete und ein Buch hervorzog. Er schlug den Titel auf, er zeigte ihn der gespannten Gesellschaft, und mit freudigem Staunen las man in großen gotischen Lettern: „Die letzten Ritter von Marienburg.“ – „Vorlesen, bitte, vorlesen“, tönte es jetzt von dreißig, vierzig schönen Lippen, und selbst die jungen Männer, die sonst diese Unterhaltung weniger liebten, stimmten für die Vorlesung. Aber eine nicht geringe Schwierigkeit fand sich jetzt in der Wahl des Vorlesers; denn jene Literatoren, die sonst in diesem Zirkel dieses Amt bekleidet hatten, stemmten sich heute bestimmt dagegen; der eine war erhitzt, der andere hatte Katarrh, der dritte war heiser, und allen war die Unlust anzusehen, daß nicht ihre eigenen Produkte, sondern fremde Geschichten vorgelesen werden sollten.
„Ich wüßte keinen Besseren vorzuschlagen“, sagte endlich ein Kriminalpräsident von großem Gewicht, „als dort meinen Referendär Palvi; wenigstens zeugen seine Referate von sehr guter Lunge und geschmeidiger Kehle.“ Indem der Kriminalpräsident seinen eigenen Witz belachte und im Chorus sechs Juristen pflichtgemäß mit einstimmten, verbeugte sich der junge Mann, an welchen die Rede ging, während eine flüchtige Röte über sein Gesicht zog, und zur Verwunderung der Gesellschaft, die ihn sehr wenig kannte, ergriff er das Buch und die Tasche und fragte bescheiden, welcher von den Damen beides gehöre.
Dem Stallmeister, der hinter ihm stand, hatte dies längst sein scharfes Auge gesagt. Elise war flüchtig errötet, als der Onkel den Beutel emporgehoben und das Buch daraus hervorgeholt hatte. Als aber Palvi anfragte, als er mit seinem dunkeln Auge den Kreis der Damen überstreifte und bei ihr stille stand, da goß sich ein dunkler Karmin über Stirne, Wangen und den schönen Hals des Fräuleins, sie schien überrascht, verlegen, und als jene Röte ebenso schnell verflog, schien sie sogar ängstlich zu sein. „Das Buch gehört mir, Herr von Palvi“, sagte sie schnell und mit einem kurzen Blick auf ihn. „Und werden Sie erlauben, daß daraus vorgelesen wird? Daß ich daraus vorlese?“ fragte er weiter.
„Ich habe hier nichts zu bestimmen“, erwiderte sie, ohne aufzusehen, „doch das Buch steht zu Diensten.“
„Nun, dann nicht gesäumt!“ rief der Oheim. „Sessel in den Kreis und ruhig sich gesetzt und andächtig zugehört, denn ich denke, wir werden einen ganz angenehmen Genuß haben.“
Man tat nach seinem Vorschlag; in bunten Kreis setzte sich die zahlreiche Gesellschaft, und sei es, daß man auch hier Fräulein Elise als literarische Königin ansah, oder war es eine sonderbare Fügung des Zufalls, der Vorleser kam so gerade ihr gegenüber zu sitzen, daß, so oft sie die Augen aufhob, diese schönen Augen auf ihn fallen mußten.
„Aber, Freunde“, bemerkte die Dame vom Hause, dieser Roman hat, soviel ich weiß, drei Bände; wollen wir sie alle anhören, so kommt unsere junge Welt heute nicht mehr zum Tanzen und wir andern nicht zum Spiel; ich denke, man wählt die schönsten Stellen aus.“
„Wer aber soll sie wählen?“ fiel ihr Gatte ein. „Das Ding ist nagelneu, niemand hat es gelesen; doch Fräulein Wilkow wird uns helfen können. Können Sie nicht schöne Stellen andeuten und uns den Faden des übrigen geben?“
Man bat so allgemein, so dringend, daß Elise nach einigem Zögern nachgab. „Der Roman“, sagte sie, „spielt, wenn ich mir die Jahreszahl richtig gemerkt habe, in den Jahren 1455–1456 in und um Marienburg in Ostpreußen. Der Deutsche Orden ist von seinen früheren einfachen und reinen Sitten abgekommen; dies und innerer Zwiespalt, wie Neid und Anfeindungen von allen Seiten her, drohen einen baldigen Umsturz der Dinge herbeizuführen, wie dann auch durch den Verrat böhmischer Ordenssoldaten, gegen Ende des dritten Teils, Marienburg für den Orden auf immer verloren geht. Auf diesen geschichtlichen Hintergrund ist aber die interessante Geschichte eines Verhältnisses zwischen einem jungen deutschen Ritter und einem Edelfräulein aufgetragen. Sie ist die Tochter des Kastellans von Marienburg, eines geheimen und furchtbaren Feindes des Ordens, der, anscheinend dem Deutschmeister befreundet, nur dazu in Marienburg lebt, um jede Blöße des Ordens den Polen zu verraten. Der Roman beginnt in der Ordenskirche, wo die Ritter und viele Bewohner von Marienburg und der Umgegend bei einem feierlichen Hochamte versammelt sind, um den Tag zu feiern, an welchem vor vielen Jahren der erste Komtur mit seinem Konvent in dieser Burg einzog. Der letzte Meister, Ulrich von Elrichshausen, ein Mann, der sich dem nahenden Verderben noch entgegenstemmen will, hält eine eindringliche Rede an die Ordensglieder. Der Gottesdienst endet mit einer feierlichen lateinischen Hymne. Indem zwei der jüngsten Ritter, nach der Sitte bei solchen Gelegenheiten, den vornehmsten fremden Besuchern das Geleite bis in den Vorhof geben, bemerkt der eine von ihnen, daß der andere im Vorbeistreifen ein kleines Päckchen in die Hand einer verschleierten Dame gedrückt habe. Die Kirche ist leer, und im zweiten Kapitel fragt nun der erstere den zweiten um die Bedeutung dessen, was er gesehen. Er ist sein Waffenbruder, ein Bündnis, das nach der Sitte der Zeit fester als irgend ein Freundschaftsband galt, und Elrichshausen, der Neffe des Meisters, der Held des Romans, gesteht ihm endlich sein Verhältnis zu der Dame, erzählt ihm von seinem Leben, seinen trostlosen Aussichten.
Der Freund ratet ab, Kuno aber verschmäht jede Warnung und bittet jenen, er möchte ihn an diesem Abend zu einer Zusammenkunft mit der Geliebten begleiten. Diese Zusammenkunft in einem verfallenen Teil des älteren Schlosses ist so schauerlich schön, daß ich möchte, sie würde ganz gelesen.“
Palvi las. Wer je ein Buch, das er sonst nicht kannte, in Gesellschaft vorgelesen, der weiß, daß etwas Beunruhigendes in dem Gedanken liegt, daß man mit gehaltener Sicherheit auf einem Felsenpfade gehen soll, den man noch nie betreten. Dieses beängstigende Gefühl wächst, wenn es ein Gespräch ist, das man vorträgt. Man kann den Atem, den Rhythmus, den Ausdruck der Empfindung nicht richtig abmessen und verteilen, man weiß nicht, ob jetzt die höchste Höhe der Lust ausgedrückt ist, ob jetzt der Dichter die tiefste Saite der Wehmut berührt habe, ob er nicht noch tiefere Akkorde anschlagen werde; und der Zuhörer pflegt diese Unsicherheit störend mitzuempfinden. Aber wunderbar las dieser junge Mann, den ein zufälliger Scherz seines Vorgesetzten zum Vorleser gestempelt hatte. Es war, als lese er nicht mit den Augen, sondern mit der Seele ohne dieses Organ, als spreche er etwas längst Gedachtes, eine Erinnerung aus, als kenne er den Inhalt, den Geist dieser Blätter, und sein Gedächtnis habe das Buch nur wegen der zufälligen Wortstellung vonnöten. Wenn das, was er las, nicht durch Inhalt und Form so großartig, dieses Gespräch zweier Liebenden so neu, so bedeutungsvoll gewesen wäre, diese Art, etwas vorzutragen, hätte zur Verwunderung hinreißen müssen.
Wir fürchten zu ermüden, wollten wir den Gang der Gefühle im Gespräch dieser Liebenden verfolgen. Wir bemerken nur, daß der jüngere Teil dieser Gesellschaft mächtig davon ergriffen wurde, daß Fräulein Elise, die anfangs den Vorleser mit scheuen, staunenden Blicken angesehen hatte, in tiefer Rührung die Augen senkte und kaum so viel Fassung fand, ihre Erzählung weiter fortzusetzen.
„Die Liebenden“, sagte sie, so wenig Trost im Schluß dieser Szene lag, „sind zufrieden in dem Gedanken an die Gegenwart. Je dunkler aber die Zukunft vor ihnen liegt, desto angenehmer dünkt es ihnen, die Gegenwart mit schönen Träumen auszufüllen. Der Deutschmeister bekommt die Nachricht, daß der Kaiser, von den Einflüsterungen Polens halb besiegt, dem Orden zürne, ihm namentlich innere Zügellosigkeit vorwerfe. Der Meister versammelt daher ein Kapitel, wo er die Ritter anredet. Diese Stelle ist eine der trefflichsten im Buche, denn der Verfasser befriedigt hier auf wunderbare Weise zwei Interessen. Indem der Meister die Verhältnisse des Ordens bis auf die zartesten Nuancen aufdeckt und berechnet, bekommt der Leser nicht nur ein schönes Bild von dem einsichtsvollen, umsichtigen Ulrich von Elrichshausen, von der erhabenen Würde eines Nachfolgers so großer Meister, von der gebietenden Stellung eines Herrschers auf Marienburg, sondern er bekommt auch auf ungezwungene und natürliche Weise eine Übersicht über die historische Basis des Romans. Der Meister schärft die Haus- und Sittengesetze und schließt mit einer furchtbaren Drohung für den Übertreter.
Der Held des Romans, voll schönen Glaubens an alles Edle und Reine, sieht in seiner Freundschaft für Wanda, so heißt das Fräulein, kein Unrecht. Er setzt, begleitet von seinem Freunde, die nächtlichen Zusammenkünfte fort. In eine derselben ist ein wunderschönes Märchen eingewoben, eine Sage, die man auch mir in meiner Kindheit oft erzählt haben muß, denn sie klang mir wie alte Erinnerungen.“
Sie hielt inne; mit einem Blick voll Liebe und Wehmut fragte Palvi, ob er das Märchen lesen solle. Sie nickte ein kurzes Ja, und er las. Der junge Rempen hatte während des Märchens sein Auge fest auf Elisen gerichtet. Er bemerkte, daß sie anfangs heiter zuhörte, mit einem Gesicht, wie man eine bekannte Lieblingsmelodie hört und die kommenden Wendungen zum voraus erratet; nach und nach wurde sie aufmerksamer; es kamen einige sonderbare Reime vor, die Palvi so rasch und mit so eigenem, singenden Tone vortrug, daß sie dadurch tief ergriffen schien; Erinnerungen schienen in ihr auf und nieder zu tauchen, sie preßte die Lippen zusammen, als unterdrücke sie einen inneren Schmerz; er sah, wie sie bleich und immer blässer wurde, er sah sie endlich ihrer Nachbarin etwas zuflüstern; sie standen beide auf, aber ebenso schnell sank Elise wieder kraftlos auf ihren Stuhl zurück.
Die Bestürzung der Gesellschaft war allgemein. Die Damen sprangen herzu, um zu helfen; aber sei es, daß, wie es oft zu geschehen pflegt, gerade das unangenehme Gefühl dieser störenden, geräuschvollen Hülfe sie wieder emporraffte, oder war es wirklich nur etwas Vorübergehendes, ein kleiner Schwindel, was sie befiel, sie stand beinahe in demselben Moment wieder aufrecht, bleich, aber lächelnd, und konnte sich bei der Gesellschaft entschuldigen, diese Störung veranlaßt zu haben.
An Erzählen und Vorlesen war übrigens nach diesem Vorfall diesen Abend nicht wohl wieder zu denken, und man nahm mit Vergnügen den Vorschlag an, sich am übernächsten Nachmittage in einem öffentlichen Gartensalon zu versammeln und „Die Ritter von Marienburg“ gemeinschaftlich zu genießen.
Der Stallmeister fühlte sich von dieser Szene auf mehr als eine Weise ergriffen; er konnte zwar Palvi nichts vorwerfen, er hatte zwei Worte mit Elisen, und diese öffentlich gesprochen; es war, wenn er selbst auch wirkliche Rechte auf das Fräulein gehabt hätte, kein Grund zur Eifersucht da, denn sie schien jenen sogar zu scheuen, zu fliehen; aber dennoch lag etwas so Rätselhaftes in Palvis Betragen, etwas so schmerzlich Rührendes in seinen Mienen, und doch wieder in seinem ganzen Wesen eine so gehaltene Würde, daß Rempen sich vornahm, was es ihn auch kosten möge, Aufschluß über ihn zu suchen. Der Oheim war bemüht, die frühere Ordnung und Freude herzustellen. Spieltische wurden aufgetragen, und aus dem Salon lud eine Violine und die lockenden Akkorde einer Harfe die junge Welt zum Tanzen ein.
Mit bewachenden Blicken folgte der Stallmeister Palvi, der, noch immer das Buch in der Hand haltend, gedankenvoll umherging. In einer Vertiefung des Fensters saß Elise. Eben ging eine Freundin von ihr weg, und Rempen nahm wahr, wie sich Palvi ihr zögernd nahte, wie er ihr mit einer tiefen Verbeugung das Buch überreichte. Schnell trat auch er hinzu, und nur die breite, dunkelrote Gardine trennte ihn von den beiden.
„Elise“, hörte er den jungen Mann sagen, „seit zehn Monaten zum erstenmal wird es mir möglich, so nahe zu stehen, nur eine Bitte habe ich –“
„Schweigen Sie“, sagte sie in leisen, aber leidenschaftlichen Tönen, „ich will nichts hören, nichts sprechen, ich habe Ihnen schon einmal gesagt, ich verachte Sie.“
„Nur das Warum möchte ich wissen“, bat er beinahe weinend, „nur ein Wörtchen, vielleicht können Sie mich doch verkennen.“
„Ich kenne sie zu gut“, erwiderte sie unmutig, „einen so niedrigen, gemeinen Menschen kann ich nur verabscheuen.“
„Gemein, niedrig?“ rief er bitter. „Und dennoch schwöre ich, daß ich Ihnen Achtung abzwingen will; diesen gemeinen, niedrigen Mann sollen Sie schätzen müssen! Wissen Sie, ich bin –“
„Daß Sie ein recht elender Mensch sind, weiß ich lange; darum bitte ich, entfernen Sie sich; diesen Zirkel werde ich aber nie mehr besuchen, wenn es Ihnen noch einmal einfallen sollte, mich anzureden.“
Bei diesen Worten stand sie rasch auf und entfernte sich mit einer kurzen Verbeugung gegen den unglücklichen jungen Mann.
So gewichtig diese Worte, so bedeutungsvoll diese Szene war, konnte sie doch dem Stallmeister kein deutlicheres Licht geben. Palvi durfte wagen, sie mit „Elise“ anzureden; sie behauptete, ihn ganz zu kennen, sie sprach so heftig ihre Gefühle aus, daß ihren Haß notwendig Liebe geboren haben mußte. – Er sah Palvi, nachdem er noch eine Weile in der Vertiefung des Fensters verweilt hatte, nach der Tür des Vorsaals gehen. Er folgte ihm dahin, wie zufällig nahm er zugleich mit jenem seinen Mantel um.
„Auch Sie scheinen kein Freund des Tanzes zu sein“, redete er den Referendär an.
„Ich habe es längst aufgegeben“, antwortete er, „aber Sie, Sie, ein Glücklicher, und nicht tanzen?“
„Ein Glücklicher?“ erwiderte der Stallmeister freundlich; „davon möchte ich mir doch noch eine nähere Definition erbitten. Überhaupt, hier wird mir so langweilig zu Mute, und zu Hause geht mir die Tanzmusik im Kopfe herum; gehen wir, wenn Sie nichts Besseres vorhaben, nicht irgendwohin zusammen?“
Palvi schien in einiger Verlegenheit zu sein. „Ich weiß nicht, was mir Ihre Gesellschaft so wünschenswert macht“, antwortete er; „ich möchte die Hälfte der Nacht mit Ihnen verplaudern, und dennoch, werden Sie es glauben? – ich rechnete darauf, früh diese Gesellschaft zu verlassen, und habe einem Freunde den übrigen Teil des Abends zugesagt.“
„Wohlan!“ fuhr der Stallmeister scherzend fort, „wenn Sie nichts gar zu Wichtiges zu besprechen haben, so folge ich Ihnen dahin.“
Der junge Mann errötete. „Das Haus ist abgelegen“, sagte er, „und für solche Gäste nicht ganz passend.“
„Und wenn es der Entenzapfen wäre“, rief Rempen; „es soll ja vortreffliches Cerevis dort geben.“
Mit einer Mischung von Staunen und Freude blickte ihn der Referendär an; doch ehe er noch fragen konnte, sprach Rempen weiter: „Verzeihen Sie meiner Neugierde, die diesmal die Diskretion überwog. Der Zufall machte mich zum Zeugen, als ein wunderlicher alter Herr Sie einlud, und schon damals wünschte ich, mit von der Partie zu sein, um so mehr“, setzte er verbindlich hinzu, „da ich diesen Abend so manchen point de réunion zwischen uns fand.“
„Gut, so folgen Sie mir. – Sie werden ein Original kennen lernen, das aber mehr unsere Aufmerksamkeit verdient als die schwachen Kopien dort oben, die doch immer für Originale gelten möchten, ja, sich selbst dafür halten. Ich meine jene Poeten und Literatoren, die uns heute morgen ein so wunderbares Schauspiel gegeben haben.“
„In seiner Art diesen Abend ein nicht minder sonderbares“, entgegnete Rempen; „oder sollte Ihnen entgangen sein, wie ungezogen sie sich benahmen, als man verlangte, dieser Roman sollte vorgelesen werden; schien es nicht, als wollten sie durch stilles, höhnisches Lächeln, durch ihre kalte Entschuldigung, zum Vorlesen nicht bei Stimme zu sein, durch so manche Zeichen ihres Mißfallens der Gesellschaft die Überzeugung aufdringen, als sei das Buch schlecht und unwürdig? Man kann nicht verlangen, daß sie sich – wollen sie einmal ungesittet sein – im Keller eines Italieners Fesseln anlegen; sie bezahlen dort, und ihre Rede ist frei; aber in einer Gesellschaft wie diese mußten sie sich den Gesetzen des Anstandes fügen.“
„Ich wollte vieles wetten“, bemerkte Palvi, „der Mann, zu dem ich Sie jetzt führe, ob er gleich in seinen Gewohnheiten und Sitten wenig gesellschaftliche Bildung verrät, würde sich weniger unschicklich benommen haben.
„Und wer ist er denn!“ fragte der Stallmeister.
„Er gehört einem Schlag von Leuten an, die man in unsern Ländern jetzt weniger oder nicht so auffallend und originell sieht als früher, ein sogenannter württembergischer Magister. Bitte, zum voraus, glauben Sie nicht, daß in diesem Begriffe etwas Lächerliches liege, denn eine nicht geringe Zahl würdiger, gelehrter Männer unserer Zeit gehören diesem Stande an. Es gab in früherer Zeit, ob jetzt noch, weiß ich nicht, in jenem Lande eine Pflanzschule für tiefe Gelehrsamkeit. Es gingen Philologen, Philosphen, Astronomen, Mathematiker in Menge daraus hervor; zum Beispiel ein Kepler, ein Schelling, Hegel und dergleichen. Vor zwanzig Jahren soll man allenthalben in Deutschland Leute aus dieser Schule gesehen haben; den Titel Magister bekommen sie als Geleitsbrief mit. Sie waren gewöhnlich mit tiefen Kenntnissen ausgerüstet, aber vernachlässigt in äußern Formen, in Sprache und Ausdruck sonderbar, und spielten eine um so auffallendere Figur, als sie gewöhnlich, ihrer Stellung nach, als Lehrer an Universitäten, als Erzieher in brillanten Häusern, in der Gesellschaft durch ihr Äußeres den Rang nicht ausfüllten, den ihnen ihre Gelehrsamkeit gab. Eine solche Figur aus alter Zeit ist mein Freund. Er ging schon vor dreißig Jahren aus seinem Vaterlande, hat aber weder in Kurland noch in Sachsen seine Eigenheiten abgelegt. Er lebt hier, abgeschieden von der Welt, in einem Dachstübchen; ich halte ihn für einen der tiefsten Denker des Zeitalters, dabei ist er ein liebenswürdiger Dichter, und dennoch ist sein Name gänzlich unbekannt. Die gelehrtesten Rezensionen in den Leipziger und Haller Blättern sind von seiner Hand; manche Entdeckung, mancher tiefgedachte Satz, womit jetzt die neuen Philosophen ihre Werke aufputzen, sind von ihm, er hat sie spielend hingeworfen.“
„Also ein literarischer Eremit“, rief Rempen aus, indem er, nicht ohne kleinen Schauder, an der Seite des Referendärs durch enge, schmutzige Gäßchen ging. „Eine Nachteule der Minerva in bester Form?“
„Wenn es heutzutage wieder einen Diogenes geben könnte“, erwiderte jener, „ich glaube, er müßte im Kostüm meines Magisters erscheinen. Dieses ehrliche, kluge, ein wenig ernste Gesicht, die kunstlos um den Kopf hängenden Haare, das verschossene Hütchen, der abgetragene Rock, den er mit keinem andern vertauschen mag, die sonderbare, beinahe zärtliche Neigung zu einer alten, schwarzgerauchten Pfeife, dazu ein dunkelbraunes Meerrohr mit silbernem Knopfe, und diese ganze Gestalt in der düsteren, schwärzlichen Spelunke, in welche wir eben treten wollen – nehmen Sie dies alles zusammen, und Sie werden finden, das Urbild eines modernen cynischen Philosophen ist fertig, nur würde er einen Alexander nicht um ein wenig Sonne, sondern um ein bißchen Feuer für seine Pfeife bitten.“
Duch einen Vorplatz, wo das trübe Licht einer schmutzigen Laterne einen zweifelhaften Schein auf Kornsäcke und umgestülpte Bierfäßchen warf, traten jetzt die beiden jungen Männer in das größere Schenkzimmer des Entenzapfen. Der Wirt, dick und angeschwollen von dem Kosten seines eigenen Getränkes, schlief in einem Lehnsessel hinter dem Ofen; einige abgerissene Gestalten spielten bei einem Stümpfchen Licht mit schmierigen Karten und sahen die Vorübergehenden mit matten, schläfrigen Augen an.
Palvi ging vorüber in ein zweites, kleineres Gemach, das für bessere Gäste eingerichtet schien. Derselbe Alte, den Rempen diesen Abend flüchtig gesehen, saß dort allein hinter einer Kanne Bier. Auf den Tisch hatte er mit Kreide einen mathematischen Satz gemalt. Er schaute, die Stirne in die Hand gestützt, aufmerksam auf seine Berechnung nieder, und nur große Tabakswolken, die er hin und wieder ausstieß, zeigten, daß er lebe und atme. Erst auf den Abendgruß seines jungen Freundes richtete er sich auf und zeigte ein ernstes, gleichgültiges Gesicht, dem nur das glänzende, ungemein interessante Auge einiges Leben verlieh.
Die Gegenwart eines Fremden schien ihm unangenehm aufzufallen. Kurz abgebrochen, indem er hastig mit dem Rockärmel die Figuren von dem Tische abwischte, sagte er: „Seid lange ausgeblieben.“
„Dafür bringe ich aber einen seltenen Gast mit“, erwiderte der junge Mann, „der das Entenbier versuchen will.“
„Literator?“ fragte der Alte etwas mürrisch.
„Wo denkst du hin, Magister; ein hiesiger Literator und der Entenzapfen! Nein, er ist nicht von diesen, sondern heißt Herr von Rempen und ist Stallmeister.“
„Da haben der Herr die ächte Quelle gefunden“, sprach der Alte freundlich und mit einer Herzlichkeit, die ihn sogar angenehm machte. „Der Entenzapfen hat solid Getränke. Setzet Euch, da bringt die Kellnerin schon die Kannen.“
Der Stallmeister erschrak vor der großen Kanne, die ihm das niedliche Kellnermädchen mit den roten Lippen kredenzte; aber die Neugierde nach dem Magister, der Drang, von Palvi nähere Aufschlüsse über Elisens Betragen zu erhalten, milderten seinen Schauder vor dem Entenzapfen.
„Es hat einen eigenen Reiz für mich“, sagte er, um die Anrede des Alten zu erwidern, „so aus einer glänzenden Gesellschaft, wo alles voll Glanz und Putz, voll Berechnung und eitlen Benehmens ist, mich in die Einfachheit einer solchen Schenke zu begeben. Man wird so leicht verführt, jenes schimmernde Wesen für wahres Leben, für ein Ideal der Gesellschaft zu nehmen, und nur ein plötzlicher, recht greller Tausch kann von diesem Wahne retten, besonders wenn man das Glück hat, Männer zu finden, die zu vernünftigem Gespräch bereitwillig sind.“
„Ich kann mir’s denken aus früherer Zeit“, entgegnete der Alte mit ironischem Lächeln. „Nun, hat man wieder anständig geschnattert und gezwitschert, Tee getrunken und göttlichem Gesange gelauscht, und als man gar ästhetisch zu werden, vorzulesen anfing, seid Ihr aus Angst davongelaufen?“
„Nein“, antwortete Rempen, „solange gelesen wurde, blieben wir.“
„Wie?“ rief der Magister. „Und Ihr habt es über Euch vermocht, Herr Referendär, allerlei rosenfarbene Poesie anzuhören.“
„Man las ‚Die letzten Ritter von Marienburg‘“, belehrte ihn der Stallmeister.
„Ei der Tausend!“ sagte der Alte mit einem sonderbaren Seitenblick auf Palvi, „konnte man doch solche Speise vertragen, ohne den ästhetischen Gaumen oder Magen zu verderben? Hat sich denn die Welt gedreht, oder waren unsere hiesigen Schöngeister nicht zugezogen?“
„Doch, sie waren dabei“, erwiderte Rempen, „sie wagten es nicht, sich dagegen zu setzen, obgleich der Zorn aus ihren Augen sprühte, denn noch diesen Morgen hatten sie sich bündig und deutlich erklärt.“ Und nun erzählte er den Auftritt im Keller des Italieners mit einer Geläufigkeit, über welche er sich selbst wundern mußte. Mehrmals wurde er von einem schnellen, kurzen Lachen des Alten unterbrochen; als er aber mit dem furchtbaren Bündnisse des literarischen Trias endete, brach der alte Mann in so herzliches Gelächter aus, daß der Wirt zum Entenzapfen mit einem tiefen Gestöhne erwachte und sich im Sessel umwälzte.
„Der Herr Stallmeister erzählen gut“, sprach dann der Magister, indem er Tränen, die das Lachen hervorgelockt hatte, verwischte. „Ich kenne sie, diese Bursche, diesen Chorus von Halbwissern. Sie sind geachteter beim Stadtpublikum und auf dem Landsitze als der wahre Gelehrte, sie sind die Vornehmern unter den Musensöhnen und machen ungebeten die Honneurs auf dem Parnaß, als wären sie Prinzen des Hauses oder zum mindesten Kammerjunker; um so weniger können sie es verschmerzen, wenn ihre Blöße aufgedeckt und ihre Schande ans Licht gestellt wird. Sie fühlen ihr Nichts; sie sehen es einander ab, aber sie wollen es sich nicht merken lassen.“
„Am sonderbarsten und unerklärlichsten scheint mir ihre Wut gegen das, was man jetzt historischen Roman nennt“, bemerkte der Stallmeister. „Ich bin zu wenig im Getriebe der Literatur bewandert, um es mir erklären zu können.“
„Danken Sie Gott“, erwiderte der Alte, „daß Sie ein heiteres, rüstiges Handwerk erlernt haben und von diesem unseligen, peinlichen Treiben nichts wissen. Kommt mir doch diese schöne Literatur jetzt vor wie scharfer Essig. Mit gehöriger Zutat vom Öl des Lebens, Philosophie, ist sie die Würze Eurer Tage; aber kostet sie gesondert, so ist sie scharf, abstoßend; betrachtet sie genau, etwa durch ein tüchtiges Glas, so sehet Ihr das Acidum aufgelöst in eine Welt von kleinen Würmern, die sich wälzen und einander anfallen, über andere wegkriechen.“
„Pfui! Aber ihr Verhältnis zum historischen Roman?“
„Sie gebärden sich“, antwortete Bunker, „als ob sie gegen irgend eine Erscheinung des Zeitgeistes ankämpfen könnten, wie Pygmäen gegen einen Riesen. Als ob nicht schon die ‚Ilias‘ so gut historisch gewesen wäre als irgend ein Roman ‚des Verfassers von Waverley‘. Und ist nicht ‚Don Quixote‘ der erste aller historischen Romane? Doch nehmen Sie nähere Beispiele bei uns. Spricht sich nicht in ‚Wilhelm Meister‘ das Element eines historischen Romans geheimnisvoll aus? Müssen wir nicht den Begebenheiten, in die der Held verwickelt ist, eine gewisse Zeitgeschichte unwillkürlich unterlegen? Müssen wir nicht das Lager des Prinzen als eine notwendige historische Dekoration damaliger Zeit ansehen? Und die ‚Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‘, sind sie nicht eine historische Novelle? – Wir betraten also zum mindesten keinen neuen Boden, kein neues zweifelhaftes Gebiet.“ – „Und welch kleiner Schritt“, bemerkte Palvi, „welch natürlicher Übergang ist vom historischen Drama, wie wir es bei Goethe finden, zum modernen geschichtlichen Romane. Sie sind ihm schon um vieles näher als die historischen Schauspiele Shakespeares. Wie im Romane sprechen dort die Helden nicht großartige Gefühle aus. Sie halten nicht gedehnte Reden, sondern ihre Reden erzählen von den schlummernden Entschlüssen ihrer Seele, und wir erblicken in einer einzelnen Wendung Motive, ahnen Handlungen, die sich nachher verwirklichen.
Die Völker scheinen sich in unsern Tagen zu scheiden und scharf abzugrenzen; doch diese Scheidung ist nur scheinbar, denn die Menschheit ist durch so viele Erfindungen sich näher gerückt worden. Wir gehören mehr und mehr der Welt an. Wir sprechen von entfernten Polarländern oder von Amerika mit einer Bestimmtheit, einem Gefühle der Nähe, wie unsre Großväter von Frankreich sprachen. Wir sind jetzt erst Europäer geworden. Darum ist uns nichts mehr fremd, was in diesem alten Weltteile geschieht. Der Unterschied der Sprache hat aufgehört, denn, Dank sei es unsern gewandten Übersetzern, es ist, als ob Scott und Irving in Frankfurt oder Leipzig lebten.“
„Gewiß!“ fiel Rempen ein, „auch in der Gesellschaft sind sich die verschiedenartigsten Elemente näher getreten. Unsere jungen Männer erzählen jetzt von einer Reise nach London oder Rom mit mehr Bescheidenheit oder Gleichgültigkeit, als sonst einer von einer Reise an einen zwanzig Meilen entfernten Hof erzählte. Aber ist uns durch alles dies, da wir in einer so breiten Gegenwart leben, die Geschichte nicht viel mehr fern, als nahe gerückt?“
„Ich gebe zu“, sagte der Alte, „das ernste Studium der Historie, aber nicht das rein menschliche Interesse daran. Die Geschichte war sonst die Geschichte der Könige, und an ihre oft unbedeutende Person knüpfte sich das Leben unsterblicher Männer. Die neuere Zeit, so große Veränderungen um uns her, haben uns anders denken gelehrt. Es ist die Geschichte der Meinungen, es sind die Schicksale gewisser Prinzipien, die wir kennen lernen möchten. Ihr Kampf erscheint in jedem Zeitalter mehr oder minder und unter der verschiedensten Gestalt, und dieser Kampf der Meinungen ist es, was jeder Periode ihr Interesse gibt, er ist es, der, dem Romane zum Grunde gelegt, unsere Teilnahme auf unbeschreibliche Weise anzieht.“
„Ich ahne, daß Sie recht haben“, erwiderte der Stallmeister; „gleichwohl kann ich diese Idee meinen bisherigen Ansichten noch nicht recht anpassen. Denn wie vertragen sich zum Beispiel mit dieser welthistorischen Ansicht jene sonderbaren Figuren Walter Scotts, die bald als rohe Hochländer, bald als Räuber, als Fischer in die Geschichte unmittelbar eingreifen und so anziehend erscheinen?“
„Das ist es ja gerade, was ich sagte“, antwortete der Magister. „Wir ahnen in der Geschichte des Landes und des Volkes, die uns Professoren auf Kathedern vortragen, daß es nicht immer die Könige und ihre Minister waren, die Großes, Wunderbares, Unerwartetes herbeiführten. Da oder dort hat die Tradition den Schatten, den Namen eines Mannes aufbehalten, von dem die Sage geht, er habe großen und geheimnisvollen Anteil an wichtigen Ereignissen gehabt. Solche Schatten, solche fabelhafte Wesen schafft die Phatasie des Dichters zu etwas Wirklichem um; in den Mund eines solchen Menschen, in sein und seiner Verbündeten geheimnisvolles Treiben legt er die Idee, legt er den Keim zu Taten und Geschichten, die man im Handbuch nur als geschehen nachliest, vergebens nach ihren Ursachen forschend. Indem solche Figuren die Ideen persönlich vorstellen, bereiten sie dem Leser hohen Genuß und oft ein um so romantischeres Interesse, je unscheinbarer sie durch Bildung und die Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft anfänglich erscheinen.“
„Und so hielten Sie es für möglich, daß auch die deutsche Geschichte interessante Stoffe für historische Romane bieten könnte?“ fragte Rempen. „Mir schien sie immer zu zerrissen, zu flach, zu wenig romantisch und großartig.“
„Das letztere glaube ich nicht“, erwiderte Palvi; „und muß denn gerade der Hintergrund, das historische Faktum das Erhabene sein? Ist es nicht der Zweck des Romans, Charaktere in ihren verschiedenen Nuancen, Menschen in ihren wechselseitigen Beziehungen zu schildern? Und kann sich nicht ein großartiger Charakter in einer Tat, einem Zwiste erproben, der für die allgemeine Geschichte von geringerer Bedeutung ist? Oder glauben Sie, weil Tieck in die Cevennen flüchtete, um einen historischen Hintergrund zu holen, er habe damit sagen wollen, unsere Geschichte biete keinen Stoff, der seines hohen Genius würdig wäre?“
„Diese ‚Ritter von Marienburg‘“, nahm der Alte das Wort, „beschäftigen sich mit keinem großartigen historischen Ereignisse. Schon fünfzig Jahre, ehe das Unglück des Ordens in Ostpreußen wirklich hereinbricht, gewahrt man, daß er sich nie mehr zu seinem alten Glanze erheben, daß früher oder später die Elemente selbst, die seine Größe beförderten, seinen Sturz bereiten werden. Er fällt, denn er hat seinen Beruf erfüllt. Aber an die geschichtliche Figur des Großmeisters, an die Täler der Nogat, an die Mauern der erhabenen Burg weiß jener Hüon Fäden anzuknüpfen, woraus er ein erhabenes Gewebe schafft. Ich möchte sagen, er baut aus den Trümmern jenes gestrandeten Schiffes eine Hütte, worin sich bequem wohnen läßt.“
„Nun verstehe ich Sie“, rief der Stallmeister, „und weil sie diesen Standpunkt nicht erreichten, weil sie diese höhere Ansicht nicht erfassen mögen, kämpfen jene Leutchen gegen diesen historischen Roman. Es ist Brotneid, sie wollen ihn nicht aufkommen lassen, weil er die Kunden an sich ziehen könnte.“
„Hat er nicht recht, der Herr Stallmeister?“ wandte sich der Magister lächelnd an seinen Nachbar. „Sie schimpfen alle aufeinander und zusammen auf jedes Größere, diese Kleinmeister. Mich freut es nur, daß mein Doktor Zundler auch bei der furchtbaren Freitags-Trias ist.“
„Ihr Doktor Zundler?“ fragte Rempen befremdet. „Kennen Sie ihn?“
„Ob ich ihn kenne?“ erwiderte der Alte lachend.
„Der Herr Stallmeister macht keinen schlimmen Gebrauch davon“, sagte Palvi zu dem Magister, „und zu größerem Verständnis der Poesie ist es ihm nützlich, wenn er es weiß. Bist du es zufrieden, Alter?“
„Es sei; aber der Herr Stallmeister wird diskret sein“, antwortete der Alte.
„Was werde ich erfahren?“ fragte Rempen. „Wie geheimnisvoll werden Sie auf einmal!“
„Sie kennen den Doktor Zundler, einen der ersten Lyriker dieser Stadt“, sprach Palvi, „sein Ruhm war früher gerade nicht sehr groß, doch etwa seit einem halben Jahre regt er die Flügel mächtig. Hier sitzt der Deukalion, der sie ihm gemacht hat.“
„Wie soll ich dies verstehen?“ erwiderte der Stallmeister.
„Unser Magister hier ist ein sonderbarer Kauz“, fuhr jener fort, „einer seiner bedeutendsten Fehler ist Ängstlichkeit, sonderbar verschwistert mit Gleichgültigkeit. Er hätte es weit bringen können auf dem deutschen Parnaß, aber er war zu ängstlich, um etwas drucken zu lassen. Doch wie vermöchte ein dichterischer Genius von diesem Hindernisse sich besiegen zu lassen. Er dichtete fort, für sich.“
„Ich machte Verse“, fiel der Alte gleichgültig ein.
„Du hast gedichtet!“ sagte Palvi. „Aber seine besten Arbeiten, seine gründlichsten Forschungen hat er um acht Groschen den Bogen in Journale verzettelt, weil er sich scheute, seinen Namen auf ein Titelblatt zu setzen, und von den glühendsten Poesien seiner Jugend fand ich die einzigen Spuren in halbverbrannten Fidibus. In meinen Augen bist du entschuldigt, guter Magister, durch deine Erziehung und die Art und Weise deines Vaterlandes. Wer hat sich dort zu deiner Zeit um einen Geist, wie der deine war, bekümmert? Was hat man für einen Mann getan, der nicht in die vier Kardinaltugenden, in die vier Himmelsgegenden der Brotwissenschaft, in die vier Fakultäten paßte? Haben sie ja sogar Schiller zwingen wollen, Pflaster zu streichen, und Wieland floh das Land der Abderiten, weil es dort keinen Raum für ihn gab, als den Posten eines Stadtschreibers, den er freilich so schlecht als möglich ausgefüllt haben mochte.“
„Mensch, nichts Bitteres gegen mein schönes Vaterland“, sagte der Alte mit sehr ernstem Blick. „Es war die Wiege großer Männer.“
„Du sagst es“, erwiderte Palvi, „die Wiege, aber nicht das Grab. Und dieser Umstand mag seine eigenen Ursachen haben. Zum mindesten findet man in Odessa wie am Mississippi, in Polen und in Rio Janeiro und überdies noch auf den Kathedern aller bekannten Universitäten deine Landsleute. Doktor Zundler nun, um von diesem zu reden, hatte das Glück, eines Tages eine Wohnung zu beziehen, in deren Giebel unser Magister ein Freilogis bewohnt, weil er den Knaben des Hausherrn zum Gelehrten bilden soll. Doktor Zundler hat, um sich zum Dichter zu bilden, viel gelesen und hat den großen Menschenkennern bald abgemerkt, daß sie auf Originale Jagd machen. Er stellt sich daher alle Tage zwei Stunden mit seinem Glas unter das Fenster und stellt Betrachtungen über die Menschen an, wie der selige Hoffmann in ‚Vetters Eckfenster‘, nur, behauptet man, mit verschiedenem Erfolg. Denn der selige Kammergerichtsrat guckte durch das Kaleidoskop, das ihm eine Fee geschenkt, der Doktor Zundler aber durch ein ganz gewöhnliches Opernglas. Da sah er einigemal den Magister und – nun, Bunkerchen, erzähle.“
Ein behagliches Lächeln verbreitete sich über das Gesicht des Alten; er trank in längeren Zügen aus seinem Glas und erzählte dann: „Eines Tages sagte mir meine Aufwärterin, daß sich der wunderschöne, reiche Herr in der Beletage nach mir erkundigt habe, wer ich wäre, was ich treibe und dergleichen. Bald darauf kam ein schön geputzter Herr in mein Stübchen, beguckte mich von allen Seiten, fragte mich allerlei und wunderte sich ungemein, daß ich ein Gelehrter sei. Er hatte mich, meiner Physiognomie nach, für einen unglücklichen Musiker gehalten. Sein Staunen wuchs, als er einige poetische Versuche, die am Boden lagen, aufnahm und las. Er wollte nicht glauben, daß sie von mir herrühren, und nahm sie endlich ‚aus reinem Interesse‘, wie er sagte, mit. Den folgenden Tag schickte er mir ein paar Flaschen Wein. Es freute mich, ich hatte gehört, daß er reich sei; ich bin arm, und trank den Wein. Als ich die erste Flasche hinunter hatte und warm war, ging die Tür auf und mein Doktorchen kam herein. Ein Wort gab das andere; man kam auf meine Poesie, ich machte wenig daraus, er viel; er schwatzte mir etwas vor von einer Erbschaft, die er gewinnen könne, von seinem Oheim, einem portierten Verehrer der Musen. Seine bisherigen Versuche haben aber nur den Unwillen des Erblassers erregt. So machte es sich von selbst, daß ich ihm meinen ganzen Kram von Poesien anbot; mich selbst amüsierten diese Verse nur, solange ich sie entwarf und ausarbeitete; ob sie das Publikum lese, ob es mich dabei nenne, war ja so gleichgültig! Im Scherz ging ich einen Akkord ein, daß ich ihm auch eine Novelle und später einen Roman schriebe. Er gibt mir dafür Wein, Knaster, zuweilen Geld, und ich habe das Bequeme, daß niemand, weder in Lob noch Tadel, meinen Namen nennt, was mir unausstehlich ist, und daß ich mich mit keinem Journalredakteur, mit keinem Buchhändler, keinem Rezensenten herumbeißen muß.“
„Ist dies nicht köstlich, Stallmeister?“ fragte Palvi lachend. „Was halten Sie von diesem trefflichen Lyriker, von diesem Zunder, der ohne fremden Stahl und Stein kein Feuer gibt?“
„Ist es möglich!“ rief der junge Rempen staunend aus. „Ist eine solche lächerliche Niederträchtigkeit jemals erhört worden! Und diesen Menschen konnte auch ich für einen Dichter halten, konnte den Genius bewundern, der auf einmal über ihn gekommen? Und auch sie, auch sie“, fuhr er in Gedanken versunken fort, „auch sie ehrt und achtet ihn darum, zeichnet ihn aus, spricht mit ihm über seine neuesten Werke. Es ist um rasend zu werden!“
Palvi sah den jungen Mann bei diesen Worten teilnehmend, beinahe gerührt an; er schien mit Mühe eine tiefe Wehmut zu bekämpfen; aber der Alte fuhr fort: „Solch belletristisches Ungeziefer, das sich vom Marke anderer mästet, hätte ich schon längst gern in der Nähe geschaut, und so studierte ich diesen Hohlkopf. Wenn allerlei Mittel von außen her einen Dichter machen könnten, er müßte es längst sein. Denken Sie sich, er trägt, wenn er sich zum Dichten niedersetzt, einen Schlafrock, dessen Unterfutter aus einem Schlafrock gefertigt ist, den einst Wieland trug. Hoffmanns Tintengefäß hat er in Berlin erstanden, von einem Sattler in Weimar aber den ledernen Überzug eines Fauteuil, in welchem Goethe oft gesessen. Mit diesem hat er seinen Stuhl beschlagen lassen, und so will er seine Phantasie gleichsam a posteriori erwärmen. Auch liegt auf seinem Tisch eine heilige Feder, Schiller soll damit geschrieben haben. Er hat gehört, daß große Dichter gern trinken, darum geht er morgens ins Weinhaus und zwingt sich zu einer Flasche Rheinwein; abends aber, wenn er schon ganz dumm und schläfrig ist, trinkt er schwarzen Kaffee mit Rum und liegt dann in schrecklichen Geburtsschmerzen und ist gewärtig, irgend eine neue ‚Maria Stuart‘ oder ‚Jungfrau von Orleans‘ hervorzubringen.“
Indem der Magister Bunker also sprach, schlug es eilf Uhr, und nicht sobald hatte er den ersten dumpfen Ton der Glocke vernommen, als er hastig sein Glas austrank, einige Groschen auf den Tisch legte, dem erstaunten Stallmeister mit einer gewissen freundlichen Rührung die Hand bot und sie ihm und Palvi herzlich drückte. Dann aber rannte er so eilends aus dem Entenzapfen, daß Rempen nicht einmal sein freundliches „Gute Nacht“ erwidern konnte.
„Sie staunen“, sprach der Referendär, „daß uns der sonderbare Mensch so plötzlich und verwirrt verläßt. Er wohnt bei einem strengen Mann, der immer fünf Minuten nach eilf Uhr die Haustüre schließt. Weil nun der arme Magister eigentlich als Almosen sein Freilogis genießt, darf er keinen Hausschlüssel führen, wie Leute, die ordentlich bezahlen, und so jagt er wie ein Gespenst, das mit dem Hahnenschrei in sein Grab entweicht.“
„Ist dieser Mensch glücklich oder unglücklich zu nennen?“ fragte Rempen nicht ohne Bewegung.
„Ich denke, glücklich“, erwiderte Palvi sehr ernst; „wer wenig hofft, hat nichts zu fürchten; er ist ruhig. Die Zeit mildert ja alles, und für die Erinnerung ist er kalt geworden.“
„Hat er je geliebt?“
„Er hat geliebt, die Tochter jenes Hauses in Kurland, wo er Erzieher war. Er muß sehr liebenswürdig gewesen sein, denn die junge Gräfin starb nachher aus Kummer. Er selbst aber brachte zwei Jahre tiefer Schwermut in einem Irrenhause zu.“
„Gott, welch ein Schicksal!“ rief der junge Mann gerührt. „Wer hätte dies ahnen können? er hat uns eine so heitere Außenseite gezeigt.“
„Wozu soll er seinen Schmerz zur Schau tragen?“ entgegnete Palvi; „er gehört nur sein, und er verschließt ihn mit den Trümmern besserer Tage in seiner Brust. Ich denke, es ist dies die einzige Art, wie Männer leiden müssen.“
„Es müßte mich alles täuschen“, sagte Rempen nach einer Pause, „oder auch Sie lieben nicht glücklich. Nennen Sie mich nicht unbescheiden. Sie haben mir zu viel Interesse eingeflößt, als daß nicht meine wärmste Teilnahme bei dieser Frage wäre.“
Der Referendär sah ihn überrascht, doch nicht gerade verwundert an; sein ernstes, dunkles Auge schien die Züge des Fragenden noch einmal zu prüfen. „Es gibt wenige Menschen“, antwortete er, „die diese Frage an mich gerichtet hätten. Doch an Ihnen freut mich gerade diese Offenheit. Ich weiß, Sie meinen Elise Wilkow; ich liebe sie.“
„Und werden wieder geliebt?“ fragte Rempen errötend.
„Ich zweifle; doch möchte ich von Ihnen nicht verkannt werden, darum will ich Ihnen die kurze Geschichte dieser Liebe geben. Meine Eltern, sie sind beide tot, lebten in dieser Stadt. Unser Haus war mit den Wilkows sehr befreundet, denn mein und Elisens Großvater sind aus demselben Lande hier eingewandert. Ich bin um so viel älter denn Elise, daß uns unsere Kinderspiele nicht zusammenführten. Wohl aber durfte ich, als auch meine Mutter starb, das Haus hin und wieder besuchen, und ich faßte in einem noch sehr jungen Herzen eine glühende Neigung für das schöne Kind. Nach den ersten Jahren meines Universitätslebens kam ich hieher. Sie war herrlich herangeblüht und gestand mir, daß sie mir recht gut sei. Elise war damals fünfzehn Jahre alt. Ich kam in rohe Gesellschaften. Mein Vermögen und mein Stipendium reichten nur das erste Mal hin, meine Schulden zu decken. Das zweite Mal drückte mich eine bei weitem geringere Verlegenheit bei weitem unangenehmer, weil ich keinen Rat wußte. Sie hatte es erfahren, und durch fremde Hand wurden meine Schulden getilgt. Mädchen in guten Ständen, in einem soliden Hause aufgewachsen, wissen nicht, wie leicht ein armer Teufel in solche Verlegenheit kömmt. Sie schmälte mich in den Ferien und hielt mich für einen schlechten Menschen. Ich versprach Fleiß und solides Leben. Das Unglück eines meiner Freunde, der einen andern erschoß, riß mich mit fort und wieder ins Elend. Auch da hat sie mir wieder geholfen und mich zu Ehren gebracht. Bei so vielen Wohltaten konnte mich vor mir selbst nur der Gedanke entschuldigen, daß es die Hand der Geliebten sei, die mich gerettet, daß ich diese Hand einst auf immer in die meinige legen werde.
Ich raffte mich zusammen, und bald darauf gelang es mir durch Fleiß, hier angestellt zu werden. Meine Stellung zu Elisen war aber eine ganz andere geworden. Der alte Wilkow hatte erfahren, wie mich seine Tochter unterstützt hatte, und verbot mir schon beim ersten Besuch sein Haus, aus dem einfachen Grunde, weil ich arm und leichtsinnig sei.
Elise selbst lebte in großen, glänzenden Zirkeln, wo ich keinen Zutritt hatte, verkehrte mit allerlei schönen Geistern und galt für die Krone der jungen Damen. Ich konnte sie höchstens in öffentlichen Gärten, auf Bällen und Konzerten, im Theater sehen. Und nur ihr freundlicher Blick konnte mich für so viel Entsagung trösten, konnte mich von dem beinahe Unbegreiflichen überzeugen, daß dieses allgemein angebetete Geschöpf – mich liebe.“
Der Stallmeister suchte vergebens seine Bewegung zu verbergen. Eine hohe Röte lag auf seinem Gesicht, und sein Auge hing voll Erwartung an den Lippen Palvis.
„Beruhigen Sie sich“, sagte dieser, als er den unangenehmen Eindruck bemerkte, den seine Erzählung auf den jungen Mann machte. „Fürchten Sie nichts, ich werde bald zu Ende sein. Ich war glücklich und zufrieden; ich kannte ihre Vorliebe für Poesie, und die Liebe ermutigte mich, einen Versuch zu wagen, der mich ihr noch werter machen sollte. Ich strengte alle meine Kräfte an, um sie mit etwas Gelungenem zu überraschen. Da brachte man mir eines Tages einen Brief. Ich erkannte ihre Züge, ich riß ihn auf und – sie schrieb mir mit kurzen, aber heftigen Worten, daß sie sich auf ewig von mir lossage, daß sie mich in tiefster Seele verachte; warum? werde mir mein eigenes Gewissen sagen. Ich versuchte mancherlei Wege, um mich ihr zu nahen, mein Gewissen sprach mich von irgend einem Fehler gegen die Geliebte frei, darum wollte ich mir Gewißheit über das Warum verschaffen. Doch sie wich überall aus, und noch heute – heute abend in jenem Zirkel hat sie alle meine Hoffnungen zertrümmert.“
In dem edelmütigen Herzen des jungen Rempen siegte Mitleiden über jedes andere Gefühl. Er faßte die Hand des unglücklichen, ihm so interessanten Mannes; er gelobte ihm, bei Elisen für ihn zu sprechen, sie um die Ursache ihres Betragens zu befragen.
Aber jener erwiderte mit dem Stolze, den unverdiente Kränkung gibt: „Vertrauen ist die erste Bedingung der Liebe. Wo Vertrauen fehlt, da war nie Liebe, oder sie ist jedem Zufall ausgesetzt. Ich habe Elise auf immer verloren, selbst wenn sie mich wieder lieben würde.“
„Und in diesem Zustand wollen Sie hier fortleben?“ fragte Rempen, seine Hand ergreifend; „wollen Elisen sehen und dabei immer fühlen, daß Sie verachtet sind?“
„Nein, gewiß nicht“, sprach jener mit düstrem Lächeln; „mein Geschäft in dieser Stadt ist zu Ende. Es bleibt mir nur noch übrig, die Geliebte vor Menschen zu warnen, die ihrer nicht wert sind. Diesen literarischen Pöbel, der ihr so unendlich wert scheint, will ich noch vor ihren Augen entlarven; und ich glaube ihr damit nützlich zu sein, denn die Stellung, die Elise jetzt eingenommen, würde sie später nimmer glücklich machen. Sie selbst werden mir dazu helfen, mein Freund, schlagen Sie ein; wir wollen unsere Penelope von diesen Freiern erretten.“
„Wohlan!“ rief der Stallmeister, indem er aufbrach, „vielleicht findet sich morgen schon Gelegenheit, wenn uns ‚Die letzten Ritter von Marienburg‘ versammeln; aber dann“, setzte er entschlossen hinzu, „noch einen Versuch, um auch Sie glücklich zu machen!“
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Der schöne Frühlingstag und die Furcht, für ungebildet zu gelten, wenigstens durch ihr Nichterscheinen geringes Interesse an der schönen Literatur zu verraten, vereinigte den größten Teil des Rempenschen Klubs in dem Gartensaal, den man zum Sammelplatz bestimmt hatte. Der junge Rempen war zu Pferd herausgekommen, geraume Zeit vor den übrigen Gästen; gedankenvoll setzte er sich auf den Altan des Hauses und schaute in den Fluß hinab. Wie so gern hätte er sich schon heute am frühen Morgen Gewißheit verschafft, warum Elise so plötzlich mit Palvi gebrochen, auf eine Weise gebrochen, die notwendig, er gestand es sich mit Schmerz, auf den Charakter des jungen Mannes einen düstern Schatten werfen mußte. Oft verwünschte er den gestrigen Tag und daß er diesen Menschen kennen gelernt habe, nur um ihn heute unaussprechlich zu achten und vielleicht morgen zu verlieren, zu – bedauern; denn verachten? nein, es konnte keinen Fall geben, der ihm diesen Mann hätte verächtlich machen können. War es denn möglich, daß eine so großartige Seele etwas Gemeinem, Niedrigem sich hingeben konnte? „Er ist arm“, sagte der gutmütige Rempen zu sich, „er muß dürftig sein, denn seine Stelle kann ihn nicht ernähren; vielleicht hat er wieder Schulden gemacht, sie hat es erfahren und deutet als Leichtsinn, was vielleicht Not ist? Aber kann, selbst wenn es Leichtsinn wäre, dieser den Geliebten in ihren Augen verächtlich, elend machen?“ Wie ergrimmte er in seiner Gedankenfolge über jene Schranken, welche das Herkommen und die „gute Sitte“ um vornehme Häuser und ihre Töchter gezogen, wie unnatürlich erschien es ihm, daß der Geliebte die Zürnende nicht in ihrem Hause, auf dem Wege, überall befragen, vielleicht versöhnen konnte, daß vielleicht ein kleines, aber sichtbares Ausweichen, eine scharfe und laut ausgesprochene Rede dazu gehörte, ihn, nach den Sitten der Gesellschaft, auf immer von sich zu entfernen! „Oder wie? Sollte sie ihn vielleicht nie geliebt haben?“ setzte er getrösteter hinzu. – „Es wäre möglich, daß ihm diese Gewißheit weniger schmerzlich wäre als ihr Haß; aber – darf sie ihn deswegen hassen?“
Ein großer Zug von Damen und Herren hatte während dieser Gedanken des jungen Rempen den Berg erstiegen und war jetzt in den Gartensaal getreten.
Noch fehlte Elise; aber man konnte nun um so ungezwungener ihren Geschmack und ihre Belesenheit bewundern. Auch Palvi wurde gebührendes Lob gespendet; man hatte selten mit dieser Gewandtheit, mit diesem Ausdruck etwas vorlesen gehört; und die Bewunderung stieg, als man sich sagte, daß er wahrscheinlich diesen Roman nicht zuvor gelesen habe. Elise kam mit Onkel und Tante Rempen angefahren, und Julius vergaß so ganz seine vorigen Gedanken, seine Vorsätze, daß er vor Freude errötend herbeisprang, sie aus dem Wagen zu heben, daß er halb unbewußt ihre Hand drückte, und dies erst erkannte, als er diesen Druck erwidert fühlte. Alle jene düstern Bilder, die auf dem Altan vor seiner Seele vorübergezogen, verschwanden vor dem Glanz ihrer Schönheit. Er hatte sie nie so reizend, so wundervoll gesehen, wenigstens so huldreich war sie nie gegen ihn gewesen. Den Grund davon gestand ihm in einer Ecke des Saals die Tante. Er hatte den Zirkel gestern abend so bald verlassen, daß Elise glaubte, sie habe ihn gekränkt. Dieser Gedanke erfüllte ihn jetzt so ganz, daß er in ihre Nähe eilte, daß er mit ihr sprach und scherzte und erst durch die wiederholte Mahnung seines Onkels darauf aufmerksam gemacht werden konnte, daß die Gesellschaft sich bereits im Kreise gesetzt habe und die Erzählung des Fräuleins Wilkow erwarte.
„Mein Unfall“, sprach sie mit leichtem Erröten, „hat mich gestern, wenn ich nicht irre, gerade bei der Zusammenkunft der Ritter mit dem Fräulein getroffen. Des Fräuleins Vater, der nicht nur von außen, sondern auch im Inneren dem Bund durch Zwischenträgerei und Uneinigkeit zu schaden sucht, hat überall Spione. Erwünscht ist ihm, daß ihm einer die Anzeige von jenem nächtlichen Rendezvous macht. Er denkt keinen Augenblick daran, daß es seine Tochter sein könnte, sondern schleicht sich mit Knechten in jene Ruinen und überfällt zuerst den Freund; die Dame und ihre Amme, die immer zugegen war, entfliehen; es kommt zum Gefecht, die Knechte werden in die Flucht geschlagen, und auch der Alte zieht sich zurück, doch nicht, ohne sich vorher mit einem Zeichen von seinem Gegner versehen zu haben.
Den andern Tag versammelt der Großmeister ein Kapitel. Er entdeckt den Rittern diesen Vorfall und beschwört die Schuldigen, sich zu nennen. Sie schwiegen. Noch einmal fordert er sie vergebens auf und zeigt dann der Versammlung eine goldne Kette, woran ein Siegelring befestigt ist. Das Wappen wird erkannt, und der Freund sieht sich genötigt, zu gestehen. Er übersieht mit klarem Blick seine Lage; die geschärften Gesetze müssen ihn schuldig sprechen, darum ist für ihn keine Rettung. Doch glaubt er, da er selbst verloren ist, seinen Freund retten zu können. Er gesteht, in den Ruinen mit einer Dame gesprochen zu haben. Der Meister ist tief ergriffen von diesem Geständnis; es ist ein tapferer, junger Mann, den das Urteil trifft, er wurde von vielen geliebt. Peinlich ist die Lage des Helden selbst und treffend die Beschreibung, wie die Furcht vor Entehrung, die Hoffnung, der Freund könne gerettet werden, ihn bald zur Entdeckung antreiben, bald davon zurückhalten. Das Urteil der Ritter wird gesammelt. Es lautet: ‚Entehrender Ausschluß aus dem Orden‘. Jetzt aber erzählt der Meister, daß noch ein zweiter Johanniter diesen Fehltritt geteilt habe; er verspricht, die Strafe in Entlassung zu mildern, wenn der Schuldige den Mitschuldigen entdecke. Jener schweigt und verratet ihn nicht. Da stürzt der Neffe des Meisters hervor und bekennt seine ganze Schuld. Diese Szene, der Schmerz des alten Ulrich von Elrichshausen und der Wettstreit der Freunde, von welchen jeder der Schuldige sein will, ist so treffend, daß man sie hören muß.“
Jetzt erst sah man sich nach dem Vorleser um. Doktor Zundler sprang nach dem Buch, das auf dem Tische lag, um zu lesen, und hatte sich schon mit freundlichem, zuversichtlichem Lächeln Elisen genähert, als der alte Rempen plötzlich aus den dichten Reihen der Männer Palvi hervorführte. „Nein, nein“, sagte er, hier steht der Mann, der uns gestern gezeigt hat, wie gut er einen Roman vorlese; ich denke, bester Doktor, Ihre Stimme paßt mehr zum Leichten, Lyrischen.“ Mit spöttischem, halb verlegenem Lächeln reichte der Doktor das Buch hin, und Palvi las, wenn es möglich war, noch schöner als am gestrigen Abend. Diese erhabene und so unglückliche Freundschaft, die Zeremonien ihrer Ausstoßung aus dem Orden, ihre letzten Worte, als sie das Schloß verlassen, lockten in manches Auge Tränen der Wehmut, und Elise selbst schien so gerührt, daß Palvi mehrere Kapitel weiter las, um ihr Fassung zu geben. Unsern Lesern ist dieser Roman zu bekannt, als daß wir nicht besorgen müßten, sie durch längere Auseinandersetzung zu ermüden. Jene interessanten Abteilungen, wo die beiden verstoßenen Ritter an den romantischen Ufern der Nogat umherstreifen, jene glücklichen Schilderungen eines schönen Landes, die Nachrichten über die alten Preußen, in deren Mitte der Orden zwei Jahrhunderte zuvor den Samen der Kultur getragen hatte; ihre altertümlichen Gebräuche, die unverkennbaren Spuren heidnischer Sitten, auf sonderbare Weise mit christlichem Ritus vermischt, dies alles, getragen und veredelt von der tiefen Melancholie Kunos, von seines Freundes Seelenstärke und heiterm, unverzagtem Mut, spannte die Zuhörer und riß sie hin.
Elise hatte sich bald wieder so weit gefaßt, daß sie mit Ruhe weiter erzählen konnte. Sie erzählte, wie die beiden Vertriebenen die Verräterei des Ordenskastellans entdeckten, der die Polen heimlich nach Marienburg rief; wie sie unter Gefahr und Beschwerden sich durch die aufrührerischen Preußen nach Marienburg durchschlagen, den Meister warnen und verborgen auf Gelegenheit harren, dem Orden zu nützen. Mit großer Begeisterung las Palvi jene Schlachtszenen, worin der Meister, bei einem Ausfall auf die Polen, von seinem Neffen gerettet wird, wo der Freund die heilige Fahne des Ordens, der ihn verstoßen, aus dem dichtesten Haufen der Feinde zurückbringt und diese erhabene Tat mit einer tödlichen Wunde zahlt. Tiefe Rührung brachte jene Szene hervor, wo der Sterbende seinem Freund so manches Rätselhafte in seinem Betragen auflöst und ihm gesteht, daß auch er selbst Wanda aufs innigste geliebt habe. Der Schmerz um den Sterbenden bewegt Kuno zu dem romantischen Entschluß, seiner Liebe auf immer zu entsagen, besonders da ein Verdacht in ihm keimt, daß sie ihn weniger geliebt als den Freund. Die nächtliche Bestattung dieses edeln Menschen, die Wiederaufnahme Kunos in den Orden waren von ergreifender Wirkung, nicht minder rührend Wandas Versuche, den Geliebten noch einmal zu sprechen, und als sie sich vergessen glaubt, ihr schnelles Hinwelken.
Der Kastellan ist von dem Czirwenka, dem Hauptmann der böhmischen Besatzung, der dessen Geständnis fürchtet, selbst getötet worden; verlassen, verwaist, auch von der Liebe verlassen, will sie nur so lange noch in der Nähe des Geliebten weilen, bis der Frühling heraufkommt; doch nicht nur diese zarte Blume, auch der Orden trägt den Tod im Herzen, und beide sollten den letzten Frühling in Marienburg sehen.
Der Großmeister Ulrich von Elrichshausen kann sich mit seinen Rittern nicht mehr gegen den Aufstand der Preußen und gegen seine eigenen Söldner halten. Er will den Orden nach Deutschland führen und bedingt sich von den Verrätern freien Abzug. Schon sind die Pferde gerüstet, der Zug will aufbrechen, und die Ritter nehmen mit blutenden Herzen von den Hallen dieser Burg Abschied. Und als alle noch einmal ihr Teuerstes mustern, was sie verlassen sollen, kann Kuno dem letzten Ruf der Geliebten nicht widerstehen; er will zu ihr und – findet sie sterbend. Sie schien nur noch so viel Leben in sich zu tragen, um ihn von ihrer Treue, ihrer Liebe zu versichern. Indessen hat Czirwenka die Tore geöffnet. Sechshundert Polen ziehen ein, und, statt dem Orden freien Abzug zu gönnen, wird der Großmeister vom Pferde gerissen, verspottet und verhöhnt. Kuno verläßt die sterbende Geliebte, um ihm beizuspringen; ein heftiges Gefecht entspinnt sich in den Höfen; einem großen Teil der Ritter, den Meister in der Mitte, gelingt es, zu entkommen, aber Kuno mit sechs andern tapfern Ordensbrüdern, welche die Fahnenwache bildeten, werden von den übrigen abgeschnitten; kämpfend ziehen sie sich über die breiten Stufen bis in den großen Rempter zurück, wo sonst die Ordensfahne stand. Der Entschluß, sie lebend nicht zu übergeben, beseelt sie, sie pflanzen das Panier an seinem alten Standpunkt auf und umgeben es. Lange gelingt es ihnen, das Siegeszeichen so vieler Schlachten zu verteidigen. Aber die Polen dringen immer heftiger ein; Übermacht und Verrat siegen, und über ihre Fahne gebreitet, sterben die letzten Ritter von Marienburg.
Es entstand eine Pause, als Palvi geendet hatte; es schien niemand zuerst jene Stille stören zu wollen, die unter zwei oder drei heilig und rührend, in größeren Gesellschaften peinigend ist. Doch je erhabener das Gefühl ist, welches zu einer solchen Ruhe zwingt, desto ängstlicher sind die Menschen, mit etwas Gemeinem diese Nachklänge tieferer Empfindungen zu unterbrechen. Sie rennen dann auf allen vieren durch die Speisekammer ihrer Erinnerung, um etwas Feines, Eingemachtes, Kandiertes vorzusetzen, statt ihre frischen natürlichen Gefühle sprechen zu lassen.
„Dieser ganze Roman“, lispelte endlich eine Dame, deren Blässe und feuchte Augen auf zarte Nerven schließen ließen, „kommt mir vor wie jener Ausspruch Jean Pauls: ‚Wie manche stille Brust ist nichts als der gesunkene Sarg eines erblaßten, geliebten Bildes.‘ Dieser Hüon liebt gewiß unglücklich, und darum gefällt er sich in diesem tragischen Geschick.“
„Gerade dies kommt mir überaus komisch vor“, bemerkte der Rat, dem Neid und Verdruß um die Nasenflügel spielten; „dieser Mensch hat zu wenig Tiefe, zu wenig Empfindung, um die Wehmut, das Unglück zu zeichnen; doch ich habe mich an einem andern Ort hinlänglich darüber ausgesprochen. Gewiß, es ist so, wie ich sage. Es steht ja gedruckt, mein Urteil“, setzte er hinzu, indem er sich vornehm in den Stuhl zurücklehnte.
„Doch glaube ich, auch gegen ein gedrucktes Urteil findet noch Appellation statt“, sagte der junge Rempen mit gleichgültiger Miene.
„Wieso?“ rief der Rat errötend.
Rempen war etwas betroffen, aber die muntern Augen seines Oheims, der hinter dem Stuhl des Hofrates stand, winkten ihm, fortzufahren. „Ich meine, ich habe so etwas gelesen, das Ihr Urteil, bester Hofrat, völlig umstieß“, entgegnete er; „übrigens ist ein gedrucktes Urteil immer nur das Urteil eines Einzelnen, und dem Einzelnen muß erlaubt sein, dagegen zu streiten. Ich zum Beispiel finde diesen Roman besser, als Sie ihn gemacht haben. Auch glaube ich, Tiefe des Gefühls müsse dem abgehen, der dies in den ‚Letzten Rittern von Marienburg‘ nicht findet.“
Der Oheim hatte solches wohl nicht geahnet, denn er und die ganze Gesellschaft schienen erstaunt über die Kühnheit des Stallmeisters.
„Solche historische Romane“, nahm der Professor das Wort, „sind nur Fabrikarbeiten. Die Form ist gegeben, und wie leicht, wie sicher läßt sich diese Form von jedem handhaben! Nehmen Sie irgend einen Lappen der Welthistorie, zerreißen ihn in kleine Fetzen und kleiden die hergebrachten Personen von A bis Z darein, so haben sie einen historischen Roman. Die weitere Entwickelung ist leicht, besonders wenn man es sich so leicht macht wie dieser Hüon, und nur genugsam Floskeln eingestreut sind; wenn das Tränentuch häufig als Panier aufgepflanzt wird, so kann der Eindruck nicht verfehlt werden.“
„Und doch deucht mir“, erwiderte Palvi, „es ist bei weitem schwerer, einen Roman zu dichten, der den Forderungen einer wahren, vernünftigen und billigen Kritik entspricht, als ein Drama zu schreiben.“
„Und was nennen Sie denn eine vernünftige und billige Kritik, Herr Referendarius?“ fragte Doktor Zundler mit ungemein klugem und spöttischem Gesicht.
„Man muß ein Buch“, erwiderte Palvi mit großer Ruhe, „man muß besonders ein Gedicht zuerst nach den Empfindungen beurteilen, die es in uns hervorruft; denn auf Gefühl ist ja ein solches Werk berechnet; es soll angenehm unterhalten, durch den Wechsel freudiger und wehmütiger Szenen befriedigen. Und dann erst, wenn unser Herz darüber entschieden hat, daß das Buch ein solches sei, das unsere Gefühle erhoben, befriedigt hat, dann erst erlaube man dem Verstand, sein Urteil darüber zu fällen, und ihm bleibt es übrig, nachzuweisen, was in Anordnung oder Stil gefehlt ist.“
„Da müßte man am Ende alle Herzen abstimmen lassen“, sagte der Rat mitleidig lächelnd, „müßte umherfragen: hat’s gefallen oder nicht? ehe man ein öffentliches Urteil fällt. Aber dem ist nicht so; unsere Journale waren es von jeher, denen zu loben oder zu verdammen zustand, und der gebildete, geläuterte Geschmack ist es, der dort richtet.“
„Überhaupt dächte ich“, setzte Doktor Zundler mit zärtlichem Seitenblick auf Elisen hinzu, „man kann über Dinge dieser Art in Gesellschaft eine gebildete Dame mit Vergnügen hören, wie schon Goethe im ‚Tasso‘ sagt, aber ein öffentliches Urteil müssen nur Leute vom Fach fällen, und nur Leute vom Fach können dagegen opponieren.“
„Und halten Sie sich etwa für einen Mann vom Fach?“ fragte Palvi mit großem Nachdruck.
Der Doktor verbarg seinen Unmut über diese Frage nur mühsam hinter einem lächelnden Gesicht. „Ich denke, die Welt zählt mich zu Deutschlands Dichtern“, sagte er.
„Die Welt“, antwortete der Referendär, „die betrogene Welt, aber nicht ich; so wenig als ich meinen Dekopisten für ein Genie halte.“
Die Gesellschaft fiel aus ihrer Spannung in eine sonderbare Bewegung. Die Damen sahen unmutig auf Palvi, ein Teil der Männer lachte über des Doktors auffallenden Mangel an Fassung, ein anderer Teil mißbilligte laut solche Reden in einer guten Gesellschaft.
„Herr von Palvi“, rief endlich Zundler bebend, man wußte nicht, ob vor Wut oder Schrecken, „wie soll ich Ihre sonderbaren Reden verstehen?“
„Ja, ja, Doktor“, sagte der Stallmeister laut lachend, „auch mit meiner Bewunderung hat es ein Ende; man sagt, Sie haben sich Ihre Gedichte und sonstigen schönen Sachen machen lassen.“
„Machen lassen?“ fragte der Chorus der Literatoren mit Bestürzung.
„Hat sie machen lassen?“ rief die Gesellschaft.
„Wer wagt, dies zu sagen?“ schrie der Doktor, indem er bleich und atemlos aufsprang.
„Nun, leider derjenige selbst, der sie Ihnen verfertigt hat“, antwortete Rempen mit großer Ruhe, „der Magister Bunker; er logiert oben in Ihrem Hause.“
Der entlarvte Dichter versuchte noch einige Worte zu sprechen; er war anzusehen wie der Kopf eines Enthaupteten; die Augen drehen sich noch, die Lippen scheinen Worte zu sprechen, aber der Geist ist entflohen, der diesen Organen Leben gab. Eilig drängte er sich dann durch den Kreis, stürzte nach seinem Hut und verließ den Saal und die vor Verwunderung verstummte Gesellschaft.
„Ist es denn wahr?“ sprach endlich die von Angst und Sorge erbleichte Elise, indem sie den Stallmeister sehr ernst ansah.
„Gewiß, mein Fräulein!“ erwiderte dieser lächelnd; „ich würde der Gesellschaft diese Szene erspart haben, aber ich war zu tief über die freche Stirne erbittert, womit dieser Mensch mich und sie alle hinterging. Doch hören Sie von dem wunderlichen Mann, der ihm alles dichtete.“
Man setzte sich schweigend, und Rempen erzählte; während seiner Erzählung schlich sich der Redakteur der ‚Blätter für belletristisches Vergnügen‘ aus dem Saal, ihm folgten seine Genossen, beschämt und ergrimmt über sich, den Doktor und die ganze Welt. Der Gesellschaft aber gereichte die Erzählung des Stallmeisters zu nicht geringem Vergnügen. Die gute Stimmung war wiederhergestellt, der Punsch, den der alte Rempen als Nachsatz von gestern gab, löste die Zungen, man fühlte sich weniger beengt, seit die öffentlichen Schiedsrichter hinweggegangen waren, man sprach allgemein das Lob des vorgelesenen Romans aus. Auch die Toasts wurden nicht vergessen, und als Julius von Rempen die Gesundheit aller wahrhaften Dichter und ihrer gründlichen Kritiker ausgebracht hatte, wagte es Elise mit glänzenden Augen, aber tief errötenden Wangen, die Gesellschaft aufzufordern, auf das Wohl des neuen Hüon und „Der letzten Ritter von Marienburg“ zu trinken.
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Elise hatte dem Stallmeister, als er beim Nachhausefahren neben dem Wagen ritt, erlaubt, sie den andern Tag zu besuchen; er kam, er fand sie allein und gütiger gegen ihn gesinnt als je. Sie neckte ihn über seine Eingriffe in die literarische Welt und riet ihm, nie etwas drucken zu lassen; denn er habe alle Rezensenten gegen sich aufgebracht.
„Und sind denn nicht auch Sie mir einige Minuten gram gewesen“, fragte er lächelnd, „weil es einer Ihrer Freier war, den ich entlarvte?“
„Einer meiner Freier?“ fragte sie hocherrötend. „Zundler? Sie irren sich.“
„O, Sie schenkten ihm oft ein geneigtes Ohr“, fuhr er fort, „verabschiedeten mich oft mitten im Gespräch, um auf die Worte dieses großen Dichters zu lauschen!“
„Gewiß nicht, Rempen!“ antwortete sie verlegen. „Und einer meiner Freier, sagten Sie? als ob ich deren viele hätte!“
„Ich kenne wenigstens einige“, erwiderte er mit lauerndem Blick.
„Und wen?“
„Zum Beispiel Palvi.“
„Palvi!“ rief sie erbleichend. „Was wollen Sie mit Palvi? Ich kenne ihn nicht.“
„Elise“, erwiderte der Stallmeister sehr ernst, „Sie kennen ihn. Der Zufall ließ mich vorgestern hören, daß Sie ihm selbst sagten, wie gut Sie ihn kennen. Sie lieben ihn.“
„Nimmermehr!“ rief sie mit glühendem Gesicht. „Er ist ein Abscheulicher! Glauben Sie, ich werde einen Elenden lieben, der – mein Kammermädchen anbetet?“
„Elise! Palvi?“
„Ja, ich gestehe es“, flüsterte sie, in Tränen ausbrechend, „Ihnen gestehe ich es, es gab eine Zeit, wo ich für diesen Menschen alles hätte tun können. Ich kannte ihn noch aus meiner Kindheit und auch später, er war mir wert. Aber hören Sie: Schon oft hatte mir mein eingebildetes Kammermädchen von einem schönen Herrn erzählt, der sie immer anrede, ihr von Liebe vorschwatze, und dem sie recht herzlich zugetan sei. Eines Tages stand sie dort am Fenster; auf einmal schlägt sie die Hände zusammen vor Freude, bittet mich, ans Fenster zu treten und ruft: ‚Sehen Sie, der dort in der Türe des Buchladens steht, der ist der schöne Herr.‘ Sie macht mir Platz, ich trete arglos hin, und aus dem Laden tritt in diesem Augenblick –“
„Wie, doch nicht Palvi?“ rief der Stallmeister, ergrimmt über das schlechte Betragen eines Mannes, den er geachtet hatte.
„Er selbst“, flüsterte Elise und drückte ihre weinenden Augen in ihr Tuch.
Der Stallmeister überließ das unglückliche Mädchen einige Minuten der Erinnerung an einen tiefen Kummer, hatte er ja doch selbst diese Pause nötig, um sich zu sammeln. Liebe, Mitleiden, so viele andere Empfindungen stürmten auf ihn ein, rissen ihn hin, Elisens Hand zu ergreifen und sie an seine brennenden Lippen zu ziehen. Erschreckt, überrascht blickte sie ihn an; doch schien ein günstiges Gefühl für ihn ihren strafenden Blick zu mildern.
„Und darf ein Mann“, sprach er bewegt, „zu Ihnen von Liebe reden, nachdem Sie so Bitteres von uns erfahren? Darf er sagen, er würde treu sein bis in den Tod, wenn Sie ihm nur einen Teil jener Liebe schenken könnten, die jener ganz besaß?“
„Julius, was fällt Ihnen ein?“ rief sie mit bebenden Lippen, doch ohne ihm ihre Hand zu entziehen. „Wozu –“
„Elise“, fuhr er fort, „ich kann einem so großen und schönen Herzen, wie das Ihrige ist, wenig Trost geben; aber die Zeit mildert; und kann nicht treue und aufmerksame Liebe selbst schönere Vorzüge ersetzen?“
Sie wollte antworten, sie errötete und schwieg, aber ihren Blick voll Liebe und Wehmut durfte er günstig für sich deuten; er schloß sie in seine Arme und küßte ihren schönen Mund.
„Aber mein Gott, Rempen“, sagte sie, indem sie sich sanft von ihm loszumachen suchte, „was machen Sie doch?“
„Ich habe dich ja längst geliebt“, fuhr er fort, „hatte nur einen Wunsch, ich glaubte dein Herz nicht mehr frei und zögerte; jetzt, da ich weiß, daß nur Gram, aber keine fremde Liebe in diesem Herzen wohnt, jetzt mußte ich dieses lästige Geheimnis von mir werfen. Aber wie? – zürnen Sie mir vielleicht über alles dieses?“
„Julius!“ rief sie, erschreckt von dem wehmütigen Ton, womit er die letzten Worte sagte.
Dieser Name, so sanft und wohlwollend ausgesprochen, ihr ängstlicher, zärtlicher Blick sagten ihm mehr als alle Worte. „Und darf ich mit dem Vater reden, Elise? Darf ich?“ setzte er hinzu.
Sie errötete und erbleichte ebenso schnell wieder, sie sah ihn eine kleine Weile prüfend an, eine Träne trat in ihre schönen Augen, aber um ihren Mund zog ein flüchtiges, feines Lächeln; sie drückte seine Hand; eine kleine Bewegung des Hauptes und die hohe Röte, die wieder über ihre Wangen ging, sagten ja, und schnell, wie vom Wind hinweggetragen, war sie in ein anderes Zimmer entschlüpft.
Der Stallmeister war in jeder Hinsicht eine so gute und anständige Partie, daß der alte Wilkow, als der Geheimerat von Rempen für seinen Neffen warb, keinen Anstand nahm, seine Zusage zu geben. Der junge Mann selbst war so von seinem süßen Glück erfüllt, daß er lange nicht an die Begebenheiten dachte, die diesem wichtigen Schritt vorangegangen waren. Endlich erinnerte ihn ein Zufall an Palvi; so unangenehm diese Erinnerung war, so fühlte er doch als Mann und als künftiger Gatte Elisens, daß er diesem Menschen, mochte er sich auch wirklich schlecht gezeigt haben, Erklärung schuldig sei. Und wie bebte seine Hand, als er ihm in wenigen Zeilen sagte, daß Elisens Widerwillen unüberwindlich sei, daß er ihn versichern könne, daß sie niemals einen Mann mehr lieben werde, welchen sie aufzugeben nicht unrecht gehabt, daß er selbst versuchen wolle, Palvis Stelle bei ihr zu ersetzen. Ja, seine Hand, sein Herz bebte, als er diese Buchstaben niederschrieb; es konnte ihn nicht beruhigen, daß er sich ins Gedächtnis recht lebhaft zurückrief, wie niedrig und elend dieser Mensch an einer so zarten, heiligen Liebe, wie sie Elise gab, gefrevelt habe. Die edeln Züge, das Auge dieses Mannes standen vor ihm; sein so hoher und liebenswürdiger Geist, so fein in Urteil und Benehmen und dennoch so wenig sittliche Würde? Die Erinnerung an jenen Abend, wo sich ihm dieser Mann so ernst und doch so herzlich genähert hatte, wo er ihm sein inneres Leben aufschloß und ein verarmtes Herz bei solchem Reichtum der Gedanken, eine tief verwundete Seele bei solcher Gesundheit des Geistes zeigte, machte ihn so wehmütig, daß er nahe daran war, die kaum geschriebenen Zeilen zu zerreißen; aber der Gedanke an Elise, die Vermutung, daß dieser Palvi so schöne Empfindung, so tiefe Rührung nur geheuchelt haben müsse, erkälteten schnell seine warme Teilnahme. Entschlossen schickte er den Brief ab, und doch deuchte es ihm, als er seinen Boten verschwinden sah, er habe einen Todespfeil auf ein edles Herz entsendet.
Der alte Herr von Rempen erinnerte sich mehrerer Fälle, wo die feierliche Verlobung gräflicher, sogar fürstlicher Paare gleich den andern oder dritten Tag, nachdem die Werbung angenommen worden, vor sich gegangen war. Er stand daher um so weniger an, seinen Neffen und Elisens Vater zu gleicher Eilfertigkeit zu treiben, als er selbst gleich nach dieser Szene, wobei seiner Meinung nach sein Segen notwendig war, auf mehrere Wochen auf das Land wollte. So kam es, daß sich der Stallmeister durch den verhängnisvollen Zug der Umstände in die ruhige Bucht eines schönen, häuslichen Glückes versetzt sah, als er sich kaum noch auf hoher See glaubte oder wenigstens von Klippen träumte, an welchen seine Hoffnung auf immer scheitern konnte. Am Morgen jenes festlichen Tages, der zu seiner Verlobung angesetzt war, brachte ein Knabe einen Brief; die Hand, die ihn überschrieben, war ihm unbekannt. Er öffnete und fand den Namen des Magister Bunker unterzeichnet. So unangenehm auch die Erinnerungen sein mochten, mit welchen dieser Name in Verbindung stand, so machte doch das Andenken an diesen alten Mann und die wenigen rührenden Worte des Briefes tiefen Eindruck auf ihn; er bat, der Stallmeister möchte dem Knaben zu ihm folgen; er habe ihm notwendig etwas zu eröffnen und sei selbst zu schwach und angegriffen, als daß er über die Straße gehen könnte. Rempen fürchtete anfangs ein Zusammentreffen mit Palvi. Als aber der Knabe auf seine Frage, ob Herr von Palvi bei dem Alten sei, antwortete: „Ach nein! der ist schnell ganz weggereist und kommt nimmer wieder, und der alte Herr Magister hat geweint wie ein Kind“, so nahm er eilends seinen Hut und folgte.
Der Knabe führte ihn durch mehrere Seitenstraßen in einen abgelegenen Teil der Stadt, wo arme Leute und Handwerker wohnten, bis vor ein kleines, aber reinliches Haus. Dort stieg er eine Treppe hinan und öffnete dem Stallmeister eine Türe. Es war ein Zimmer voll Verwirrung und Unordnung, in das sie traten. Papiere und Bücher lagen am Boden zerstreut, und die Trümmer einer Guitarre mischten sich mit ausgeleerten Flaschen und alten Schuhen. Auf den Stühlen lagen Kleidungsstücke, auf dem schlechten Kanapee aber saß, den Kopf in die Hand gestützt, ein Mann, in welchem Rempen den Alten erkannte. Beim Geräusch, das ihr Eintreten verursachte, wandte er den Kopf um und hatte Tränen in den alten Augen.
„Vergeben Sie mir!“ sagte er, indem er mit Mühe sich aufraffte. „Meine Füße trugen mich nicht mehr zu Ihnen, und meine Hand zittert – ich mußte meine Botschaft mündlich geben.“
„Was ist vorgegangen!“ rief der junge Mann bestürzt. „Sie sind krank, Sie weinen, um wen? und von wem eine so feierliche Botschaft?“
Der Alte trocknete sich die Augen. „Er hat viel auf Sie gehalten“, sprach er, „noch gestern und vorgestern hat er immer von Ihnen gesprochen und innig bedauert, daß er Sie so spät erst kennen gelernt hat. Sie hätten können herzliche Freunde werden, denn Sie sind keiner von den schuftigen Gesellen, die er verabscheute.“
„Mein Gott, Sie sprechen von Palvi? wo ist er?“
„Möge ihn ein gütiger Arm vor den Wellen des Flusses bewahrt haben!“ erwiderte der Alte sehr ernst; „doch, nicht wahr, junger Mann, es gehört größere Kraft dazu, einen Kummer zu tragen, als sich von ihm zerbrechen zu lassen? nicht wahr? ich glaube es wenigstens, und er ist eine kräftige Seele, er kann nicht zum Selbstmörder werden.“
Rempen verhüllte sein Gesicht, er konnte den tiefen Gram des Alten nicht länger sehen. Aber dieser zog ihm ängstlich die Hand von den Augen. „O lesen Sie doch“, sagte er; „lesen Sie genau, prüfen Sie jedes Wort, nicht wahr, es steht nichts darin, daß er sich töten wolle?“
Rempen nahm das Blatt; es war in wenigen Worten ein kurzer, aber ergreifender Abschied an den Alten. Er müsse ihn und diese Stadt verlassen, schrieb er. Als Grund gab er nur flüchtig sein unglückliches Verhältnis zu Elisen an, von welchem der Alte völlig unterrichtet schien.
Rempen suchte den Alten zu trösten; es sei so natürlich, sagte er, daß Palvi sich zerstreuen wolle, daß er vielleicht nur eine kleine Reise mache.
Aber der Alte schüttelte mit bitterem Lächeln den Kopf. „Er kommt nicht wieder; und ach! ich habe keine Freude und keinen Freund mehr! Er hat alle seine kleinen Rechnungen bezahlt, und mir“, setzte er weinend hinzu, „mir hat er seine Bücher und alles hinterlassen. – Doch mein Auftrag; Sie sehen, wie sehr er Sie schätzte, hier ist ein Paket mit Büchern an Sie, die Adresse schrieb er noch heute morgen, und in einem kleinen Zettelchen, das er darauf gelegt hat, bittet er mich, Sie bei allem, was heilig ist, zu versichern, daß er kein schlechter Mensch gewesen sei, daß er Sie liebe und in Ihrem Glück sein eigenes finde.“
Indem der Magister noch diese Worte sprach, hörte man ein Geräusch auf der Treppe, eilende Schritte nahten dem Zimmer, die Türe ging auf, und, ein Zeitungsblatt in der Hand, stürzte der Buchhändler Kaper in das Zimmer. „Wo ist er?“ rief er erhitzt und atemlos; „wo ist der große und unvergleichliche Hüon, unser Scott, unser letzter Ritter! Wo ist Blüte und Kern unserer Literatur? Ich meine den Herrn Referendär von Palvi, der hier logiert, wenn ich nicht irre“, setzte er hinzu, als er den Gesuchten nicht im Zimmer fand.
„Er ist verreist“, antwortete der Alte.
„Himmel! komme ich zu spät?“ fuhr Kaper fort; „wissen Sie nicht, hat Hüon schon einen Verleger zum nächsten Historischen? Daß wir es erst heute erfahren müssen – Ei! ei! gratuliere, Herr Stallmeister, zu meiner schönen Nachbarin – aber wer hätte das gedacht, daß wir den göttlichen Hüon in den eigenen Mauern hätten, daß es dieser Herr von Palvi wäre!“
„Wie“, rief der Stallmeister, indem er den Alten staunend anblickte. – „Er wäre Hüon?“
„Da steht’s, da steht’s gedruckt im ‚Konversationsblatt‘“, schrie der Buchhändler, seine Zeitung dem jungen Rempen überreichend.
„Hüon“, sagte der Alte, „er war Hüon. Wohl hat er den Ungläubigen die Backenzähne ausgezogen, und vergebens kämpften sie gegen meinen edlen, jugendlichen Paladin; aber sein Geschick wollte, er sollte Hüon ohne Rezia sein!“
Noch einmal öffnete sich die Türe und spie, wie das Tor im Löwengarten des König Franz, zwei Leoparden auf einmal aus. Es waren der Hofrat und der dramatische Professor, die hereinstürzten. „Wo ist er?“ riefen sie; „vergessen sei alle Fehde! wir hatten ja einen ganz andern im Verdacht, der Autor dieses Romans zu sein; darum, gewiß nur darum haben wir ihn gehauen. Ins Freitagskränzchen soll er kommen, Mitarbeiter soll er werden am ‚Belletristischen Vergnügen‘! Den Zundler soll er uns ersetzen, der treffliche Hüon.“ So schrien sie durcheinander; aber mit Hohn und Verachtung blickte sie der Alte an. „Ihr findet ihn nicht mehr“, sagte er. „Er ist hinweg für immer.“
„Hat er etwa einen Ruf bekommen?“ rief der Professor.
„Ha!“ rief ihm der Hofrat nach, „das ist ja wohl Zundlers rätselhafter Magister. Herrlicher Fund! wir zahlen zehn Taler per Bogen, Wertgeschätzter; arbeiten Sie mit an unserem Blatt, was Sie wollen; Gedichte, Novellen, Rezensionen, Kunstgefühle, wir nehmen alles auf!“
„Zurück!“ entgegnete der alte Mann mit mehr Hoheit, als ihm Rempen zugetraut hatte; „ich habe einen Freund verloren, eine große, schöne Seele, und bin nicht gesonnen, ihn mit euch und euren Talern zu ersetzen. Dort am Boden liegen Palvis Papiere – teilt euch unter seinen poetischen Nachlaß.“
Er sprach es, nahm den Stallmeister unter dem Arm und verließ mit ihm langsam das Zimmer. Kaper, der Hofrat und der Professor stürzten wie Drachen auf den Boden und über die Papiere her, und mitten in seinem Kummer mußte der Stallmeister lächeln, als ihm der Alte auf der Treppe entdeckte, jene werden nur Fragmente von juristischen Relationen und unbedeutende Kriminalakten finden. Als aber der Alte an der Türe des Hauses, mühsam und auf seinen Stab gestützt, an den Häusern herschleichen wollte, ergriff Rempen seinen Arm von neuem und führte ihn trotz seiner Widerrede bis zu seiner Wohnung. Dort setzte sich der Magister auf einen Stein, um Kräfte zu gewinnen, denn sein Stübchen lag fünf Stockwerke hoch.
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Elise saß zu derselben Stunde vor der Toilette. Gedankenvoll sah sie vor sich hin, indem das Kammermädchen ihre Haare ordnete. Vielleicht hatte der tägliche Anblick dieser Zofe den Stachel entheiligter Liebe nur immer noch tiefer in das Herz gedrückt; und dennoch vermochte sie es nicht über sich, dieses Mädchen wegzuschicken; es war der Stolz einer erhabenen Seele, was sie von diesem Schritt abhielt, der vielleicht auch von ihren Eltern getadelt worden wäre, denn das Mädchen diente treu und geschickt. Doch so tief diese Wunde sein mochte, Elise suchte in diesem Augenblick ihren Schmerz zu übertäuben. Wenn nach den Gesetzen der Natur das Wesen in uns zu derselben Zeit verschiedentlich beschäftigt sein könnte, wenn es möglich wäre, in dem nämlichen Moment in dem Herzen so ganz anders zu fühlen, als man oben, hinter den Augen denkt, so müßte Elisens Seele in dieser Stunde nach verschiedenen Richtungen sich geteilt haben. Im Hintergrund ihres Herzens flüsterten tiefe, wehmütige Töne, die Erinnerung einer schönen Zeit, sie sangen in klagenden Weisen jene Tage, wo Elise auf der ersten Stufe der Jugend das Auge des Geliebten verstand. In volleren Akkorden rauschten diese Erinnerungen, als sie von Stunden seliger Liebe, von Trennung und der Wonne des Wiederfindens sprachen. „Verloren, verloren durch seine eigene Schuld!“ weinte dann ihre Seele; „untergegangen ein so großer, schöner Geist in Leichtsinn und Niedrigkeit!“ Doch diese Gefühle schlichen nur gleich Schatten vorbei; sie suchte mit aller Gewalt des Geistes den Blick von diesen Erscheinungen abzuwenden, sie dachte an das ruhige, klare Wesen ihres zukünftigen Gatten, sein bescheidenes und doch so würdiges Betragen, seine reine Herzensgüte. Sie rief sich alles dies hervor, ja, sie versuchte zu lächeln, um freundlichere Gefühle dadurch zu erringen, aber – es gelang ihr, ruhig, doch nicht heiter zu werden.
Der Putz war vollendet, sie richtete sich vor dem hohen Spiegel auf, und die Freude an ihrer eigenen hübschen Gestalt verdrängte auf Augenblicke jene düsteren, wehmütigen Bilder. „Nein, und wenn er noch so propre angetan wäre“, sagte in diesem Augenblick das Kammermädchen, „mich soll er nicht mehr anreden dürfen!“
„Ich habe dir gesagt, du sollst nicht mehr von solchen Dingen reden“, rief Elise mit der Röte des Unmutes auf den Wangen.
„Ach Gott! gnädiges Fräulein, ich will ja auch gar nichts mehr von dem schlechten Menschen wissen; aber ich sagte nur so, weil er wieder in Herrn Kapers Laden steht.“
Elise zitterte, sie wollte von dem Spiegel hinwegeilen; aber unwiderstehlich zog es sie an das Fenster. Sie warf einen Blick hinüber, und unter jener Türe stand Zundler.
„Wie!“ rief sie, kaum ihrer Worte mächtig, der Zofe zu, „ist es denn dieser?“
„I, freilich! aber werden Sie mir nur nicht böse!“
„Und dieser auch, den du damals meintest?“ fuhr sie mit bebenden Lippen fort.
„Wer denn anders?“ entgegnete jene ruhig; „aber ich weiß jetzt, er ist ein schlechter Mensch, und jetzt weiß ich auch, wie er heißt, Doktor Zundler.“
„Geh, geh, bringe die Kleider weg“, flüsterte Elise, indem sie ihr glühendes Gesicht halb bewußtlos in die Kissen des Sofas drückte; das Mädchen eilte erschrocken hinweg, und die unglückliche Braut war mit ihrem Gram allein. Welche Gefühle stürmten auf sie ein! Beschämung, Liebe, Unmut über sich selbst. Sie sprang auf; ein Gang durch das Zimmer machte sie mutiger. Sie wollte Rempen alles gestehen, sie war einen Augenblick überzeugt, er werde so edel sein, zurückzutreten, Palvi werde leicht zu versöhnen sein. Aber die Stadt wußte, daß heute ihre Verlobung sei; ihr Vater hat dem Geliebten sogar das Haus verboten; würde er jemals einwilligen, sie glücklich zu machen? Nein! Scham vor der Welt, Reue, Angst warfen sie nieder. Bleich, erschöpft und zitternd fand sie der Stallmeister, als er bald darauf ernster, als zu diesem fröhlichen Tag sich schickte, in Elisens Zimmer trat.
„Ich muß Ihnen eine sonderbare Nachricht geben“, sagte er bewegt, indem er sich zu ihr setzte und, beschäftigt mit seinen Gedanken, ihre Verwirrung nicht bemerkte. „Palvi ist weggereist, und zwar auf immer.“
„Er ist tot!“ rief sie; „gewiß, schnell, sagen Sie es nur heraus, er hat sich getötet!“
„Nein“, erwiderte Rempen, „er hat mir einen Brief zurückgelassen, worin er Sie und mich zum letztenmal begrüßt; er ist nach Frankreich gegangen. Dorthin lautet auch sein Paß, wie mir soeben mein Onkel erzählte.“
Elise schwieg; sie fühlte, daß sie in diesem Augenblick erst ihn ganz verloren habe; aber sie hatte Kraft genug, jeden Laut des Kummers zu unterdrücken.
„Doch, was Sie noch mehr befremden wird“, fuhr er fort, „jenen Roman, den Sie uns letzthin erzählt haben, hat uns der Autor selbst vorgelesen.“
„Palvi!“ rief sie in so eigenem Ton, daß der Stallmeister erschrak. „Er wäre –“
„Hüon, der Autor der ‚Letzten Ritter von Marienburg‘. Er steht schon in öffentlichen Blättern, und hier schickt er mir und Ihnen dieses Werk.“ Der Stallmeister öffnete ein Paket und gab Elisen die Bücher. Sie öffnete eines derselben; ihr Blick fiel auf das Märchen, woraus Palvi mit so sonderbarem Akzent einige Worte gelesen, und jetzt erst stieg eine längst verbleichte Erinnerung in ihr auf. Es war ein Märchen, das Palvis Vater den Kindern so oft erzählt hatte.
Eine große Träne schwamm in ihrem schönen Auge und fiel herab auf diese Zeilen.
In diesem Augenblick öffneten sich die Flügeltüren; mit feierlichem Gesicht und überladen mit seinen Orden trat der Geheimrat von Rempen herein. Mit Anstand trat er vor das Fräulein, ihr den Arm zu bieten. „Die Familien sind im Salon versammelt“, sprach er; „ist es gefällig, die Ringe zu wechseln? Doch wie! sind Sie so sehr in unsere Literatur verliebt, daß Sie sogar gerade vor der Verlobung Lesestunden mit meinem Neffen halten? Was lesen Sie denn, wenn man fragen darf?“
Mit einem schmerzlichen Lächeln stand Elise auf und nahm seinen Arm. „Etwas Altes in neuer Form“, erwiderte sie, „ein Märchen von untergegangener Liebe!“
„Ei! ei!“ setzte der Oheim lächelnd und mit dem Finger drohend hinzu; „etwas Solches vor der Verlobung; und wie heißt denn der Titel?“ fragte er, indem er sie in den Saal führte:
„Die letzten Ritter von Marienburg.“