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Wilhelm Hauff
Die Sängerin.
„Das ist ein sonderbarer Vorfall“, sagte der Kommerzienrat Bolnau zu einem Bekannten, den er auf der Breiten Straße in B. traf; „gesteht selbst, wir leben in einer argen Zeit.“
„Ihr meint die Geschichte im Norden?“ entgegnete der Bekannte; „habt Ihr Handelsnachrichten, Kommerzienrat? Hat Euch der Minister der Auswärtigen aus alter Freundschaft etwas Näheres gesagt.“
„Ach, geht mir mit Politik und Staatspapieren; meinetwegen mag geschehen, was da will. Nein, ich meine die Geschichte mit der Bianetti.“
„Mit der Sängerin? Wie? ist sie noch einmal engagiert? Man sagte ja, der Kapellmeister habe sich mit ihr überworfen –“
„Aber um Gottes willen“, rief der Kommerzienrat und blieb staunend stehen; „in welchen Spelunken treibet Ihr Euch umher, daß Ihr nicht wisset, was sich in der Stadt zuträgt? So wisset Ihr nicht, was der Bianetti arrivierte?“
„Kein Wort, auf Ehre; was ist es denn mit ihr?“
„Nun, es ist weiter nichts mit ihr, als daß sie heute nacht totgestochen worden ist.“
Der Kommerzienrat galt unter seinen Bekannten für einen Spaßvogel, der, wenn er morgens von eilf bis mittag seine Promenaden in der Breiten Straße machte, die Leute gerne aufhielt und ihnen irgend etwas aus dem Stegreife aufband. Der Bekannte war daher nicht sehr gerührt von dieser Schreckensnachricht, sondern antwortete: „Weiter wisset Ihr also heute nichts, Bolnau? Ihr müßt doch nachgerade mit Eurem Witz zu Rande sein, weil Ihr die Farben so stark auftraget. Wenn Ihr mich übrigens ein andermal wieder stellet in der Breiten Straße, so besinnt Euch auf etwas Vernünftigeres, sonst bin ich genötigt, einen Umweg zu machen, wenn ich von der Kanzlei nach Hause gehe.“
„Er glaubt’s wieder nicht!“ rief der Spaziergänger; seht nur, er glaubt’s wieder nicht! Wenn ich gesagt hätte, der Kaiser von Marokko sei erstochen worden, so hättet Ihr die Nachricht mit Dank eingesteckt und weiter getragen, weil sich dort schon Ähnliches zugetragen hat. Aber wenn eine Sängerin hier in B. totgestochen wird, da will keiner glauben, bis man den Leichenzug sieht. Aber Freundchen, diesmal ist’s wahr, so wahr ich ein ehrlicher Mann bin.“
„Mensch! Bedenket, was Ihr sagt!“ rief der Freund mit Entsetzen. „Tot sagtet Ihr? Die Bianetti totgestochen?“
„Tot war sie vor einer Stunde noch nicht, aber sie liegt in den letzten Zügen, so viel ist gewiß.“
„Aber sprechet doch ums Himmels willen! Wie kann man denn eine Sängerin totstechen? Leben wir denn in Italien? Für was ist denn eine wohllöbliche Polizei da? Wie ging es denn zu? Totgestochen!“
„Schreiet doch nicht so mörderlich!“ erwiderte Bolnau besänftigend; „die Leute fahren schon mit den Köpfen aus allen Fenstern und schauen nach dem Straßenlärm. Ihr könnet ja sotta voce jammern, soviel Ihr wollt. Wie es zuging? Ja, sehet, da liegt es eben; das weiß bis jetzt kein Mensch. Gestern nacht war das schöne Kind noch auf der Redoute, so liebenswürdig, so bezaubernd wie immer, und heute nacht um zwölf Uhr wird der Medizinalrat Lange aus dem Bette geholt, Signora Bianetti liege am Sterben; sie habe eine Stichwunde im Herzen. Die ganze Stadt spricht schon davon, aber natürlich das tollste Zeug. Es sind allerdings fatale Umstände dabei, daß man nicht ins reine kommen kann; so darf z. B. niemand ins Haus als der Arzt und die Leute, die sie bedienen. Auch bei Hof weiß man es schon, und es kam ein Befehl, daß die Wache nicht am Haus vorbeiziehen dürfe; das ganze Bataillon mußte den Umweg über den Markt nehmen.“
„Was Ihr sagt! Aber weiß man denn gar nicht, wie es zuging? Hat man denn gar keine Spur?“
„Es ist schwer, sich aus den verschiedenen Gerüchten auf das Wahre durchzuarbeiten. Die Bianetti, daß muß man ihr lassen, ist eine sehr anständige Person, der man auch nicht das Geringste nachsagen kann. Nun, wie aber die Leute sind, besonders die Frauen, wenn man da von dem ordentlichen Lebenswandel des armen Mädchens spricht, zuckt man die Achsel und will von ihrem frühern Leben allerlei wissen. Von ihrem frühern Leben! Sie hat kaum siebzehn Jahre und ist schon anderthalb Jahre hier. Was ist das für ein früheres Leben!“
„Haltet Euch nicht so lange beim Eingange auf“, unterbrach ihn der Bekannte, „sondern kommt auf das Thema. Weiß man nicht, wer sie erstochen hat?“
„Nun, das sage ich ja eben; da soll es nun wieder ein abgewiesener oder eifersüchtiger Liebhaber sein, der sie umbrachte. Sonderbar sind allerdings die Umstände. Sie soll gestern auf der Redoute mit einer Maske, die niemand kannte, ziemlich lange allein gesprochen haben. Sie ging bald nachher weg, und einige Leute wollten gesehen haben, daß dieselbe Maske zu ihr in den Wagen stieg. Weiter weiß niemand etwas Gewisses. Aber ich werde es bald erfahren, was an der Sache ist.“
„Ich weiß, Ihr habt so Eure eigenen Kanäle, und gewiß habt Ihr auch bei der Bianetti einen dienstbaren Geist. Es gibt Leute, die Euch die Stadtchronik nennen.“
„Zu viel Ehre, zu viel Ehre“, lachte der Kommerzienrat und schien sich ein wenig geschmeichelt zu fühlen. „Diesmal habe ich aber keinen andern Spion als den Medizinalrat selbst. Ihr müßt bemerkt haben, daß ich, ganz gegen meine Gewohnheit, nicht die ganze Straße hinauf und hinab wandle, sondern mich immer zwischen der Karls- und Friedrichsstraße halte.“
„Wohl habe ich dies bemerkt, aber ich dachte, Ihr macht Fensterparade vor der Staatsrätin Baruch.“
„Geht mir mit Baruch! wir haben seit drei Tagen gebrochen, meine Frau sah das Verhältnis nicht gerne, weil jene so hoch spielt. Nein, der Medizinalrat Lange kommt alle Tage um zwölf Uhr durch die Breite Straße, um ins Schloß zu gehen, und ich stehe hier auf dem Anstand, um ihn sogleich aufs Korn zu nehmen, wenn er um die Ecke kommt.“
„Da bleibe ich bei Euch“, sprach der Freund, „die Geschichte der Bianetti muß ich genauer hören. Ihr erlaubt es doch, Bolnau?“
„Wertester, geniert Euch ganz und gar nicht“, entgegnete jener; „ich weiß, Ihr speiset um zwölf Uhr, lasset doch die Suppe nicht kalt werden. Überdies könnte Lange vor Euch nicht mit der Sprache recht heraus wollen; kommt lieber nach Tisch ins Kaffeehaus, dort sollet Ihr alles hören. – Machet übrigens, daß Ihr fortkommt, dort biegt er schon um die Ecke.“
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„Ich halte die Wunde nicht für absolut tödlich“, sprach der Medizinalrat Lange nach den ersten Begrüßungen; „der Stoß scheint nicht sicher geführt worden zu sein. Sie ist schon wieder ganz bei Besinnung und, die Schwäche abgerechnet, die der große Blutverlust verursachte, ist in diesem Augenblick wenigstens keine Spur von Gefahr.“
„Das freut mich“, erwiderte der Kommerzienrat und schob vertraulich seinen Arm in den des Doktors; „ich begleite Ihn noch die paar Straßen bis ans Schloß; aber sag’ Er mir doch ums Himmels willen etwas Näheres über diese Geschichte; man kann ja gar nicht ins klare kommen, wie sich alles zugetragen.“
„Ich kann Ihm schwören“, antwortete jener, „es liegt ein furchtbares Dunkel über der Sache. Ich war kaum eingeschlafen, so weckt micht mein Johann mit der Nachricht, man verlange mich zu einem sehr gefährlichen Kranken. Ich warf mich in die Kleider, renne hinaus, im Vorsaal steht ein Mädchen, bleich und zitternd, und flüstert so leise, daß ich es kaum hörte, ich solle meinen Verbandzeug zu mir stecken. Schon das fällt mir auf; ich werfe mich in den Wagen, lasse die bleiche Mamsell auf den Bock zu Johann sitzen, daß sie den Weg zeige, und fort geht es bis in den Lindenhof. Ich steige vor einem kleinen Hause ab und frage die Mamsell, wer denn der Kranke sei?“
„Ich kann mir denken, wie Er staunte –“
„Wie ich staunte, als ich hörte, es ist Signora Bianetti! Ich kannte sie zwar nur vom Theater, hatte sie sonst kaum zwei-, dreimal gesehen, aber die geheimnisvolle Art, wie ich zu ihr gerufen wurde, das Verbandzeug, das ich zu mir stecken sollte, ich gestehe Ihm, ich war sehr gespannt, was der Sängerin zugestoßen sein sollte. Es ging eine kurze Treppe hinan, eine schmale Hausflur entlang. Das Mädchen ging voran, ließ mich einige Augenblicke im Dunkeln warten und kam mir dann schluchzend und noch bleicher als zuvor entgegen. ‚Treten Sie ein, Herr Doktor‘, sagte sie, ‚ach! Sie werden zu spät kommen, sie wird’s nicht überleben.‘ Ich trat ein, es war ein schrecklicher Anblick.“
Der Medizinalrat schwieg, sinnend und düster, es schien sich ein Bild vor seine Seele zu drängen, das er umsonst abzuwehren suchte. „Nun, was sah Er?“ rief sein Begleiter, ungeduldig über diese Unterbrechung; „Er wird mich doch nicht so zwischen Türe und Angel stehen lassen wollen?“
„Es ist mir manches in meinem Leben begegnet“, fuhr der Doktor fort, nachdem er sich gesammelt hatte, „manches, wovor mir graute, manches, das mich erschreckte, aber nichts, was mir das Herz so in der Brust umdrehte wie dieser Anblick. In einem matt erleuchteten Zimmer lag ein bleiches, junges Weib auf dem Sofa, vor ihr kniete eine alte Magd und preßte ihr ein Tuch auf das Herz. Ich trat näher; weiß und starr wie eine Büste lag der Kopf der Sterbenden zurück, die schwarzen, herabfallenden Haare, die dunkeln Braunen und Wimpern der geschlossenen Augen bildeten einen schrecklichen Kontrast mit der glänzenden Blässe der Stirn, des Gesichtes, des schönen Halses. Die weißen, faltenreichen Gewänder, die wohl zu ihrer Maske gehört hatten, waren von Blut überströmt, Blut auf dem Fußboden, und von dem Herzen schien der rote Strahl auszugehen – dies alles stellte sich mir in einem Augenblick dar, es war Bianetti, die Sängerin.“
„O Gott, wie mich das rührt!“ sprach der Kommerzienrat bewegt und zog ein langes, seidenes Tuch hervor, um sich die Augen zu wischen. „Geradeso lag sie noch letzten Sonntag vor acht Tagen in der Oper ‚Othello‘ da, als sie die Desdemona spielte. Schon damals war der Affekt so grausam wahr und wahrhaft greulich, daß man meinte, der Mohr habe sie in der Tat erdolcht; und jetzt ist es wirklich so weit mit ihr gekommen! Wie mich das rührt!“
„Habe ich Ihm nicht jede übermäßige Rührung verboten?“ unterbrach ihn der Arzt. „Will Er mit Gewalt wieder seine Zufälle bekommen?“
„Er hat recht“, sagte der Kommerzienrat Bolnau und fuhr schnell mit dem Tuch in die Tasche; „Er hat recht; meine Konstitution ist nicht für den Affekt. Erzähl’ Er nur weiter, ich werde die Tafelscheiben am Kriegsministerio im Vorbeigehen zählen, das hilft gegen solche Anfälle.“
„Zähl’ Er nur, und wenn es nicht hilft, so kann Er auch noch den obern Stock des Palais mitnehmen. Die alte Magd nahm das Tuch weg, und mit Erstaunen erblickte ich eine Wunde wie von einem Messerstich, die dem Herzen sehr nahe war. Es war nicht Zeit, mich mit Fragen aufzuhalten, so viele derselben mir auch auf der Zunge schwebten, ich untersuchte die Wunde und legte den Verband um. Die Verwundete hatte während der ganzen Operation kein Zeichen von Leben gezeigt; nur, als ich die Wunde sondierte, war sie schmerzlich zusammengezuckt. Ich ließ sie ruhen und bewachte ihren Schlummer.“
„Aber das Mädchen und die alte Magd, hat Er denn diese nicht gefragt, woher die Wunde rühre?“
„Ich will es Ihm nur gestehen, Kommerzienrat, weil Er mein alter Freund ist; ja, als für die Kranke im Augenblick nichts mehr zu tun war, habe ich ihnen rund genug erklärt, daß ich weiter keine Hand mehr an die Dame legen werde, wenn sie mir nicht alles beichten.“
„Und was sagten sie? So sprech’ Er doch!“
„Nach eilf Uhr war die Sängerin zu Hause gekommen, und zwar von einer großen männlichen Maske begleitet. – Ich mochte bei dieser Nachricht die beiden Weiber etwas sehr zweideutig angesehen haben, denn sie fingen aufs neue an zu weinen und beteuerten mir mit den außerordentlichsten Schwüren, ich solle doch nichts Schlechtes von ihrer Herrschaft denken; es sei die lange Zeit, seit sie ihr dienen, nie nach vier Uhr abends ein Mann über ihre Schwelle gekommen; das kleinere Mädchen, das wohl Romane mußte gelesen haben, wollte sogar behaupten, Signora sei ein Engel von Reinheit.“
„Das behaupte ich auch“, sagte der Kommerzienrat, indem er gerührt die Scheiben des Palais, dem sie sich näherten, zu zählen anfing; „das sagte ich auch; der Bianetti kann man nichts Böses nachsagen, sie ist ein liebes, frommes Kind, und was kann sie denn davor, daß sie schön ist und ihr Leben durch Gesang fristen muß?“
„Glaub’ Er mir“, entgegnete Lange, „ein Arzt hat hierin einen untrüglichen psychologischen Maßstab. Ein Blick auf die engelreinen Züge des unglücklichen Mädchens überzeugte mich mehr von ihrer Tugend als die Schwüre ihrer Zofen. Doch höre Er weiter: die Sängerin trat mit dem Fremden in dieses Zimmer und hieß ihr Mädchen hinausgehen. Diese war vielleicht aus Neugierde, was wohl dieser nächtliche Besuch zu bedeuten habe, der Türe nahe geblieben; sie hörte einen heftigen Wortwechsel, der zwischen ihrer Dame und einer tiefen, hohlen Männerstimme in französischer Sprache geführt wurde; Signora sei endlich in heftiges Weinen ausgebrochen, der Mann habe schrecklich geflucht; plötzlich hörte sie ihre Dame einen gellenden Schrei ausstoßen, sie kann sich vor Angst nicht mehr zurückhalten, reißt die Türe auf, und in demselbem Augenblicke fährt die Maske an ihr vorbei und durch den Gang an die Treppe. Sie folgt ihm einige Schritte, vor der Treppe hört sie ein schreckliches Gepolter, er mußte hinuntergestürzt sein. Von unten dringt ein Ächzen und Stöhnen herauf wie das eines Sterbenden, aber es graut ihr, sie wagt keinen Schritt weiter vorzugehen. Sie geht zurück in die Türe – die Sängerin liegt in ihrem Blute und schließt nach wenigen Augenblicken die Augen. Das Mädchen weiß sich nicht zu raten, sie weckt die alte Magd, ihrer Herrschaft einstweilen beizustehen, und springt zu mir, um vielleicht Signora noch zu retten.“
„Und die Bianetti hat noch nichts geäußert? Hat Er sie nicht befragt?“
„Ich ging sogleich auf die Polizei und weckte den Direktor; er ließ noch um Mitternacht alle Gasthöfe, alle Gassenkneipen, alle Winkel der Stadt durchsuchen; aus dem Tore ist in jener Stunde niemand passiert, und von jetzt an wird jedermann strenge untersucht. Die Hausleute, die im obern Stock wohnen, erfuhren die ganze Sache erst, als die Polizei das Haus durchsuchte; unbegreiflich war es, wie der Mörder entspringen konnte, da er durch seinen Fall hart beschädigt sein mußte, denn man fand viel Blut unten an der Treppe, und es ist mir nicht unwahrscheinlich, daß er sich im Falle durch seinen eigenen Dolch verwundet hat. Es ist um so unbegreiflicher, wie er entkam, da die Haustüre verschlossen war. Die Bianetti selbst erwachte um zehn Uhr und gab dem Polizeidirektor zu Protokoll, daß sie im strengsten Sinne nicht wisse, auch nicht einmal ahne, wer die Maske sein könne. Alle Ärzte und Chirurgen sind verpflichtet, wenn sie zu einem Patienten, der durch einen Fall oder eine Messerwunde lädiert ist, solches anzuzeigen, weil man vielleicht auf diesem Wege dem Mörder auf die Spur kommen könnte. So stehen die Sachen. Ich bin aber überzeugt wie von meinem Leben, daß ein tiefes Geheimnis zu Grunde liegt, das die Sängerin nicht entdecken will; denn die Bianetti ist nicht die Person, die sich von einem ihr völlig unbekannten Mann nach Hause begleiten läßt. Das scheint auch ihr Mädchen, das beim Verhör zugegen war, zu ahnen. Denn als sie sah, daß Signora nichts wissen wolle, gab sie nichts von dem Wortwechsel an, den sie gehört hatte, mir aber warf sie einen bittenden Blick zu, sie nicht zu verraten. ‚Es ist eine entsetzliche Geschichte‘, sagte sie, als sie mich nachher zur Treppe begleitete, ‚aber keine Welt brächte mich dazu, etwas zu verraten, was Signora nicht bekannt werden lassen will.‘ Sie gestand mir noch etwas, das auf die ganze Sache vielleicht Licht verbreiten würde.“
„Nun, und darf ich diesen Umstand nicht auch wissen?“ fragte der Kommerzienrat. „Er sieht, wie ich gespannt bin; spann’ Er ab, spann’ Er ab, um Gottes willen, ich könnte sonst leicht meine Zufälle bekommen!“
„Höre Er, Bolnau, besinn’ Er sich, lebt noch ein Bolnau außer Ihm in dieser Stadt? Existiert noch irgend ein anderer in der Welt, und wo, sag’ Er, wo?“
„Außer mir keine Seele in dieser Stadt“, antwortete Bolnau; „als ich vor acht Jahren hieher zog, freute es mich, daß ich nicht Schwarz, Weiß oder Braun, nicht Meier, Müller oder Bauer heiße, weil damit allerlei unangenehme Verwechslungen geschehen. In Kassel war ich der einzige Mann in meiner Familie, und sonst gibt es auf Gottes Erdboden keinen Bolnau mehr als meinen Sohn, den unglücklichen Musiknarren, der ist verschollen, seit er nach Amerika segelte. Aber warum fragt Er nach meinem Namen, Doktor?“
„Nun, Er kann es nicht sein, Kommerzienrat, und Sein Sohn ist in Amerika. Aber es ist schon Viertel über zwölf Uhr, Prinzeß Sophie ist krank, ich habe mich nur zu lang mit Euch verschwatzt; lebt wohl, à revoir!“
„Nicht von der Stelle“, rief Bolnau und hielt ihn fest am Arm, „saget mir zuvor, was das Mädchen noch gesagt hat.“
„Nun ja, aber reinen Mund gehalten, Bolnau! ihr letztes Wort, ehe sie in jene tiefe Ohnmacht sank, war Bolnau.“
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Man hatte den Kommerzienrat Bolnau noch nie so ernst und düster schleichen sehen wie damals, als ihn der Doktor Lange vor dem Palais verließ. Sonst war er munter und rüstig einhergeschritten, und wenn er mit dem freundlichsten Lächeln alle Mädchen und Frauen grüßte, mit den Männern viel lachte und ihnen allerlei Neues erzählte, so hätte man ihm noch keine sechzig Jahre zugetraut. Er schien auch alle Ursache zu haben, fröhlich und guter Dinge zu sein; er hatte sich ein hübsches Vermögen zusammenspekuliert, hatte sich, als es genug schien, mit seiner Frau in B. zu Ruhe gesetzt und lebte nun in Freude und Jubel jahraus, jahrein. Er hatte einen einzigen Sohn gehabt, dieser sollte die Laufbahn des alten Herrn auch durchlaufen und handeln und sich umtun im Kommerz, so wollte er es haben.
Der Sohn aber lebte und webte nur im Reich der Töne, die Musik war ihm alles, der Handel und Kommerz des Vaters war ihm zu gemein und niedrig. Der Vater hatte einen harten Sinn, der Sohn auch, der Vater brauste leicht auf, der Sohn auch, der Vater stellte gleich alles auf die Spitze, der Sohn auch; kein Wunder, daß sie nicht miteinander leben konnten. Und als der Sohn sein zwanzigstes Jahr zurückgelegt hatte, war der Vater fünfzig, da brach er auf, sich zur Ruhe zu setzen, und wollte dem Sohn den Handel geben. Es war auch bald alles in Richtigkeit und Ruhe, denn in einer schönen Sommernacht war der Sohn nebst einigen Klavierauszügen verschwunden, kam auch richtig nach England und schrieb ganz freundschaftlich, daß er nach Amerika gehen werde. Der Kommerzienrat wünschte ihm Glück auf den Weg und begab sich nach B.
Der Gedanke an den Musiknarren, wie er seinen Sohn nannte, trübte ihm zwar manche Stunde, denn er hatte ihn ersucht, sich nie mehr vor ihm sehen zu lassen, und es stand nicht zu erwarten, daß dieser ungerufen wiederkehre; es wollte ihm zuweilen bedünken, als habe er doch töricht getan, als er ihn durchaus im Kommerz haben wollte; aber Zeit, Gesellschaft und heitere Laune ließen diese trüben Gedanken nicht lange aufkommen; er lebte in Jubel und Freude, und wer ihn recht heiter sehen wollte, durfte nur zwischen eilf Uhr und mittag durch die Breite Straße wandeln. Sah er dort einen langen, hagern Mann, dessen sehr moderne Kleidung, dessen Lorgnette und Reitpeitsche, dessen bewegliche Manieren nicht mehr recht zu seinen grauen Haaren passen wollten, sah er diesen Mann nach allen Seiten grüßen, alle Augenblicke bei diesen oder jenen stille stehen und schwatzen und mit den Armen fechten, so konnte er sich darauf verlassen, es war der Kommerzienrat Bolnau.
Aber heute war dies alles ganz anders. Hatte ihn schon zuvor die Ermordungsgeschichte der Sängerin fast zu sehr affiziert, so war ihm das letzte Wort des Doktors in die Glieder geschlagen. „Bolnau“, hatte die Bianetti noch gesagt, ehe sie vom Bewußtsein kam. Seinen eigenen ehrlichen Namen hatte sie unter so verfänglichen Umständen ausgesprochen! Seine Knie zitterten und wollten ihm die Dienste versagen, sein Haupt senkte sich auf die Brust sorgenvoll und gedankenschwer. „Bolnau!“ dachte er, „königlicher Kommerzienrat! wenn sie jetzt stürbe, die Sängerin, wenn das Mädchen dann ihr Geheimnis von sich gäbe und den Polizeidirektor mit den näheren Umständen des Mordes und mit dem verhängnisvollen Wort bekannt machte! Was könnte dann nicht ein geschickter Jurist aus einem einzigen Wort argumentieren, besonders wenn ihn die Eitelkeit anfeuert, in einer solchen Cause célèbre seinen Scharfsinn zu zeigen.“ Er lorgnettierte mit verzweiflungvoller Miene das Zuchthaus, dessen Giebel aus der Ferne ragte. „Dorthin, Bolnau! aus ganz besonderer Gnade und Rücksicht auf mehrjährige Dienste!“
Er atmete schwerer, er lüftete die Halsbinde, aber erschreckt fuhr er zurück, war dies nicht der Ort, wo man das hänfene Halsband umknüpfte, war dies nicht die Stelle, wo das kalte Schwert durchging?
Begegnete ihm ein Bekannter und nickte ihm zu, so dachte er: „Holla, der weiß schon um die Sache und will mir zu verstehen geben, daß er wohl unterrichtet sei.“ Ging ein anderer vorüber, ohne zu grüßen, so schien ihm nichts gewisser, als daß man ihn nicht kennen wolle, sich nicht mit dem Umgang eines Mörders beflecken wolle. Es fehlte wenig, so glaubte er selbst, er seie schuldig am Mord, und es war kein Wunder, daß er einen großen Bogen machte, um das Polizeibureau zu vermeiden; denn konnte nicht der Direktor am Fenster stehen, ihn erblicken und heraufrufen? „Wertester, beliebt es nicht, ein wenig heraufzuspazieren, ich habe ein Wort mit Ihnen zu sprechen.“ Verspürt er nicht schon ein gewisses Zittern, fühlt er nicht jetzt schon seine Züge sich zu einem Armensündergesicht verziehen, nur weil man glauben könnte, er seie der, den die Sängerin mit ihrem letzten Worte angeklagt?
Und dann fiel ihm wieder ein, wie schädlich eine solche Gemütsbewegung für seine Konstitution seie; ängstlich suchte er nach Fensterscheiben, um sich ruhig zu zählen, aber die Häuser und Straßen tanzten um ihn her, der Glockenturm schien sich höhnisch vor ihm zu neigen, ein wahnsinniges Grauen erfaßte ihn, er rannte durch die Straßen, bis er erschöpft in seiner Behausung niedersank, und seine erste Frage war, als er wieder ein wenig zu sich gekommen, ob nicht ein Polizeidiener nach ihm gefragt habe?
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Als gegen Abend der Medizinalrat Lange zu seiner Kranken kam, fand er sie um vieles besser, als er sich gedacht hatte. Er setzte sich an ihrem Bette nieder und besprach sich mit ihr über diesen unglücklichen Vorfall. Sie hatte ihren Arm auf die Kissen gestützt, in der zartgeformten Hand lag ihr schöner Kopf. Ihr Gesicht war noch sehr bleich, aber selbst die Erschöpfung ihrer Kräfte schien ihr einen eigentümlichen Reiz zu geben. Ihr dunkles Auge hatte nichts von jenem Feuer, jenem Ausdruck verloren, der den Doktor, obgleich er ein bedächtiger Mann und nicht mehr in den Jahren war, wo Phantasie der Schönheit zu Hilfe kommt, schon früher von der Bühne aus angezogen hatte. Er mußte sich gestehen, daß er selten einen so schönen Kopf, ein so liebliches Gesicht gesehen hatte; ihre Züge waren nichts weniger als regelmäßig, und dennoch übten sie durch ihre Verbindung und Harmonie einen Zauber aus, für welchen er lange keinen Grund wußte; doch dem psychologischen Blicke des Medizinalrates blieb dieser Grund nicht verborgen; es war jene Reinheit der Seele, jener Adel der Natur, was diese jungfräulichen Züge mit einem überraschenden Glanz von Schönheit übergoß. „Es scheint, Sie studieren meine Züge, Doktor“, sprach die Sängerin lächelnd; „Sie sitzen so stumm und sinnend da, starren mich an und scheinen ganz zu vergessen, was ich fragte. Oder ist es zu schrecklich, als daß ich es hören sollte? darf ich nicht erfahren, was die Stadt über mein Unglück sagt?“
„Was wollen Sie alle diese törichten Vermutungen hören, die müßige Menschen erfinden und weiter sagen? Ich habe eben darüber nachgedacht, wie rein sich Ihre Seele auf Ihren Zügen spiegle; Sie haben Frieden in sich, was kümmert Sie das Urteil der Menschen?“
„Sie weichen mir aus“, entgegnete sie, „Sie wollen mir entschlüpfen, indem Sie mir schöne Dinge sagen. Und mich sollte das Urteil der Menschen nicht kümmern? welches rechtliche Mädchen darf sich so über die Gesellschaft, in welcher sie lebt, hinwegsetzen, daß es ihr gleich gilt, was man von ihr spricht? Oder glauben Sie etwa“, setzte sie ernster hinzu, „ich werde nichts darnach fragen, weil ich einem Stand angehöre, dem man nicht viel zutraut? Gestehen Sie nur, Sie halten mich für recht leichtsinnig.“
„Nein, gewiß nicht; ich habe immer nur Schönes von Ihnen gehört, Mademoiselle Bianetti, von Ihrem stillen, eingezogenen Leben, und daß Sie mit sicherer Haltung in der Welt stehen, obgleich Sie so einsam und mancher Kabale ausgesetzt sind. Aber warum wollen Sie gerade wissen, was die Menschen sagen? wenn ich nun als Arzt solche Neuigkeiten nicht für zuträglich hielte?“
„Bitte, Doktor, bitte, foltern Sie mich nicht so lange“, rief sie; „sehen Sie, ich lese in Ihren Augen, daß man nicht gut von mir spricht. Warum mich in Ungewißheit lassen, die gefährlicher für die Ruhe ist als die Wahrheit selbst?“
Diesen letzten Grund fand der Medizinalrat sehr richtig; und konnte in seiner Abwesenheit nicht irgend eine geschwätzige Frau sich eindringen und noch Ärgeres berichten, als er sagen konnte? „Sie kennen die hiesigen Leute“, antwortete er, „B. ist zwar ziemlich groß, aber, du lieber Gott, bei einer solchen Neuigkeit der Art zeigt es sich, wie kleinstädtisch man ist. Es ist wahr, Sie sind das Gespräch der Stadt, dies kann Sie nicht wundern, und weil man nichts Bestimmtes weiß, so – nun, so macht man sich allerhand seltsame Geschichten. So soll z. B. die männliche Maske, die man auf der Redoute mit Ihnen sprechen sah und die ohne Zweifel dieselbe ist, welche diese Tat beging, ein –“
„Nun, so reden Sie doch aus“, bat die Sängerin in großer Spannung, „vollenden Sie!“
„Es soll ein früherer Liebhaber gewesen sein, der Sie in – in einer andern Stadt geliebt hat und aus Eifersucht umbringen wollte.“
„Von mir das! o, ich Unglückliche!“ rief sie schmerzlich bewegt und Tränen glänzten in ihren schönen Augen; „wie hart sind doch die Menschen gegen ein so armes, armes Mädchen, das ohne Schutz und Hilfe ist! Aber reden Sie aus, Doktor, ich beschwöre Sie! es ist noch etwas anderes zurück, das Sie mir nicht sagten. In welcher Stadt, sagen die Leute, soll ich –“
„Signora, ich hätte Ihnen mehr Kraft zugetraut“, sprach Lange, besorgt über die Bewegung seiner Kranken. „Wahrlich, ich bereue es, nur so viel gesagt zu haben; ich hätte es nie getan, wenn ich nicht fürchtete, daß andere mir unberufen zuvorkämen.“
Die Sängerin trocknete schnell ihre Tränen. „Ich will ruhig sein“, sagte sie wehmütig lächelnd, „ruhig will ich sein wie ein Kind; ich will fröhlich sein, als hätten mir diese Menschen, die mich jetzt verdammen, ein tausendstimmiges ‚Bravo‘ zugerufen. Nur erzählen Sie weiter, lieber, guter Doktor!“
„Nun, die Leute schwatzen dummes Zeug“, fuhr jener ärgerlich fort. „So soll, als Sie letzthin im ‚Othello‘ auftraten, in einer der ersten Ranglogen ein fremder Graf gewesen sein; dieser will Sie erkannt und vor etwa zwei Jahren in Paris in einem schlechten Hause gesehen haben. – Aber, mein Gott, Sie werden immer blässer –“
„Es ist nichts, der Schein der Lampe fiel nur etwas matter herüber; weiter, weiter!“
„Nun, dieses Gerede blieb von Anfang nur in den ersten Zirkeln; nach und nach kam es aber ins Publikum, und da dieser Vorfall hinzukömmt, verbindet man beides und versetzt das frühere Verhältnis zu Ihrem Mörder in jenes berüchtigte Haus in Paris.“
Auf den ausdrucksvollen Zügen der Kranken hatte während dieser Rede die tiefste Blässe mit flammender Röte gewechselt. Sie hatte sich höher aufgerichtet, als solle ihr kein Wort dieser schrecklichen Kunde entgehen, ihr Auge haftete starr und brennend auf dem Mund des Arztes, sie atmete kaum, ihr Herz schien stillzustehen. „Jetzt ist’s aus“, rief sie mit einem schmerzlichen Blick zum Himmel, indem Tränen ihrem Auge entstürzten, „jetzt ist es aus, wenn er dies hörte, so war es zuviel für seine Eifersucht. Warum bin ich nicht gestern gestorben, ach! da hätte ich meinen guten Vater gehabt, und meine süße Mutter hätte mich getröstet über den Hohn dieser grausamen Menschen!“
Der Doktor staunte über diese rätselhaften Worte; er wollte eben ein tröstendes, besänftigendes Wort zu ihr sprechen, als die Türe mit Geräusch aufflog und ein großer, junger Mann hereinfuhr. Sein Gesicht war auffallend schön, aber ein wilder Trotz verfinsterte seine Züge, sein Auge rollte, sein Haar hing verwildert um die Stirne. Er hatte ein großes, zusammengerolltes Notenblatt in der Faust, mit welchem er in der Luft herumfuhr und gleichsam agierte, ehe er Atem zum Sprechen fand. Bei seinem Anblick schrie die Sängerin laut auf, der Doktor glaubte anfangs, aus Angst, aber es war Freude, denn ein holdes Lächeln zog um ihren Mund, ihr Auge glänzte ihm durch Tränen entgegen. „Carlo!“ rief sie, „Carlo! Endlich kommst du, nach mir zu sehen!“
„Elende!“ rief der junge Mann, indem er majestätisch den Arm mit der langen Notenrolle nach ihr ausstreckte; „laß ab von deinem Sirenengesang, ich komme – dich zu richten!“
„O Carlo!“ unterbrach ihn die Sängerin, und ihre Töne klangen schmelzend und süß wie die Klänge der Flöte; „wie kannst du so zu deiner Giuseppa sprechen!“
Der junge Mann wollte mit tragischem Pathos antworten, aber der Doktor, dem dieser Auftritt für seine Kranke zu angreifend schien, warf sich dazwischen. „Wertester Herr Carlo“, sagte er, indem er ihm eine Prise bot, „belieben Sie zu bedenken, daß Mademoiselle in einem Zustand ist, wo solche Szenen allzusehr ihre schwachen Nerven affizieren!“
Jener schaute ihn groß an und wandte die Notenrolle gegen ihn. „Wer bist du, Erdenwurm?“ rief er mit tiefer, dröhnender Stimme; „wer bist du, daß du dich zwischen mich stellst und meinen Zorn?“
„Ich bin der Medizinalrat Lange“, entgegnete dieser und schlug die Dose zu, „und in meinen Titeln befindet sich nichts von einem Erdenwurme. Ich bin hier Herr und Meister, solange Signora krank ist, und ich sage Ihnen im guten, packen Sie sich hinaus, oder modulieren Sie Ihr Presto assai zu einem anständigen Larghetto.“
„O, lassen Sie ihn doch, Doktor“, rief die Kranke ängstlich, „lassen Sie ihn doch, bringen Sie ihn nicht auf! Er ist mein Freund, Carlo wird mir nichts Böses tun, was ihm auch die schlechten Menschen wieder von mir gesagt haben.“
„Ha! Du wagst es noch, zu spotten! Aber wisse, ein Blitzstrahl hat die Tore deines Geheimnisses gesprengt und hat die Nacht erhellt, in welcher ich wandelte. Also darum sollte ich nicht wissen, was du warst, woher du kamst? darum verschlossest du mir den Mund mit deinen Küssen, wenn ich nach deinem Leben fragte? Ich Tor! daß ich von einer Weiberstimme mich bezaubern ließ und nicht bedachte, daß sie nur Trug und Lug ist! Nur im Gesang des Mannes wohnt Kraft und Wahrheit. Ciel! Wie konnte ich mich von den Rouladen einer Dirne betören lassen!“
„O Carlo“, flüsterte die Kranke, „wenn du wüßtest, wie deine Worte mein Herz verwunden, wie dein schrecklicher Verdacht noch tiefer dringt als der Stahl des Mörders!“
„Nicht wahr, Täubchen“, schrie jener mit schrecklichem Lachen, „deine Amorosi sollten blind sein, da wäre gut mit ihnen spielen? Der Pariser muß doch ein wackerer Kerl sein, daß er endlich doch noch das fromme Täubchen fand!“
„Jetzt aber wird es mir doch zu bunt, Herr“, rief der Doktor und packte den Rasenden am Rock; „auf der Stelle marschier Er sich zu dem Zimmer hinaus, sonst werde ich die Hausleute rufen, daß sie Ihn expedieren.“
„Ich gehe schon, Erdenwurm, ich gehe“, schrie jener und stieß den Medizinalrat zurück, daß er ganz bequem in einen Fauteuil niedersaß; „ja, ich gehe, Giuseppa, um nimmer wiederzukehren. Lebe wohl oder stirb lieber, Unglückliche, verbirg deine Schmach unter der Erde. Aber jenseits verbirg deine Seele an einen Ort, wo ich dir nie begegnen möge; ich würde der Seligkeit fluchen, wenn ich sie mit dir teilte, weil du mich hier so schändlich um meine Liebe, um mein Leben betrogen.“ Er rief es, indem er noch etwas weniges mit den Noten agierte, aber sein wildes, rollendes Auge schmolz in Tränen, als er den letzten Blick auf die Geliebte warf, und schluchzend rannte er aus dem Zimmer.
„Ihm nach, halten Sie ihn auf“, rief die Sängerin, „führen Sie ihn zurück, es gilt meine Seligkeit!“
„Mit nichten, Wertgeschätzte“, entgegnete Doktor Lange, indem er sich aus seinem Lehnstuhl aufrichtete; „diese Szene darf nicht fortgespielt werden. Ich will Ihnen etwas Niederschlagendes aufschreiben, daß Sie alle Stunden zwei Eßlöffel voll einnehmen werden.“
Die Unglückliche war in ihre Kissen zurückgesunken, und ihre Kräfte waren erschöpft, sie verlor das Bewußtsein von neuem.
Der Doktor rief das Mädchen und suchte mit ihrer Hülfe die Kranke wieder ins Leben zurückzubringen, doch konnte er sich nicht enthalten, während er die Essenzen einflößte, das Mädchen tüchtig auszuschmälen. „Habe ich nicht befohlen, man solle niemand, gar niemand hereinlassen, und jetzt läßt man diesen Wahnsinnigen zu, der Ihr braves Fräulein beinahe zum zweiten Male ums Leben brachte!“
„Ich habe gewiß sonst niemand hereingelassen“, sprach die Zofe weinend; „aber ihn konnte ich doch nicht abweisen; sie schickte mich ja heute schon dreimal in sein Haus, um ihn zu beschwören, nur auf einen kleinen Augenblick zu kommen; ich mußte ja sogar sagen, sie sterbe und wolle ihn vor ihrem Tode nur noch ein einziges Mal sehen!“
„So? Und wer ist denn dieser –“
Die Kranke schlug die Augen auf. Sie sah bald den Doktor, bald das Mädchen an, ihre Blicke irrten suchend durchs Zimmer. „Er ist fort, er ist auf ewig hin“, flüsterte sie; „ach, lieber Doktor, gehen Sie zu Bolnau!“
„Aber, mein Gott, was wollen Sie nur von meinem unglücklichen Kommerzienrat, er hat sich über Ihre Geschichte schon genug alteriert, daß er zu Bette liegen muß; was kann denn er Ihnen helfen?“
„Ach, ich habe mich versprochen“, erwiderte sie, zu dem fremden Kapellmeister sollen Sie gehen, er heißt Boloni und logiert im Hôtel de Portugal.“
„Ich erinnere mich, von ihm gehört zu haben“, sprach der Doktor, „aber was soll ich bei diesem tun?“
„Sagen Sie ihm, ich wollte ihm alles sagen, er solle nur noch einmal kommen – doch nein, ich kann es ihm nicht selbst sagen; Doktor, wenn Sie – ja, ich habe Vertrauen zu Ihnen, ich will Ihnen alles sagen, und dann sagen Sie es wieder dem Unglücklichen, nicht wahr?“
„Ich stehe zu Befehl; was ich zu Ihrer Beruhigung tun kann, werde ich mit Freuden tun.“
„Nun, so kommen Sie morgen frühe, ich kann heute nicht mehr so viel sprechen. Adieu, Herr Medizinalrat; doch noch ein Wort; Babette, gib dem Herrn Doktor sein Tuch!“
Das Mädchen schloß einen Schrank auf und reichte dem Doktor ein Tuch von gelber Seide, das einen starken, angenehmen Geruch im Zimmer verbreitete.
„Das Tuch gehört nicht mir“, sprach jener, „Sie irren sich, ich führe nur Schnupftücher von Leinwand.“
„Unmöglich!“ entgegnete das Mädchen; „wir fanden es heute nacht am Boden; ins Haus gehört es nicht, und sonst war noch niemand da als Sie.“
Der Doktor begegnete den Blicken der Sängerin, die erwartungsvoll auf ihm ruhten. „Könnte nicht dieses Tuch jemand anders enfallen sein?“ fragte er mit einem festen Blick auf sie.
„Zeigen Sie her“, erwiderte sie ängstlich, „daran hatte ich noch nicht gedacht.“ Sie untersuchte das Tuch und fand in der Ecke einen verschlungenen Namenszug, sie erbleichte, sie fing an zu zittern.
„Es scheint, Sie kennen dieses Tuch und die Person, die es verloren hat“, fragte Lange weiter; „es könnte zu etwas führen, darf ich es nicht mit mir nehmen? darf ich Gebrauch davon machen?“
Giuseppa schien mit sich zu kämpfen; bald reichte sie ihm das Tuch, bald zog sie es ängstlich und krampfhaft zurück. „Es sei“, sagte sie endlich; „und sollte der Schreckliche noch einmal kommen und mein wundes Herz diesmal besser treffen; ich wage es; nehmen Sie, Doktor. Ich will Ihnen morgen Erläuterungen zu diesem Tuche geben.“
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Man kann sich denken, wie ausschließlich diese Vorfälle die Seele des Medizinalrat Lange beschäftigten. Seine sehr ausgebreitete Praxis war ihm jetzt ebensosehr zur Last, als sie ihm vorher Freude gemacht hatte, denn verhinderten ihn nicht die vielen Krankenbesuche, die er vorher zu machen hatte, die Sängerin am andern Morgen recht bald zu besuchen und jene Aufschlüsse und Erläuterungen zu vernehmen, denen sein Herz ungeduldig entgegenpochte? Doch zu etwas waren diese Besuche in dreißig bis vierzig Häusern gut, er konnte, wie er zu sagen pflegte, hinhorchen, was man über die Bianetti sage, vielleicht konnte er auch über ihren sonderbaren Liebhaber, den Kapellmeister Boloni, eines oder das andere erfahren.
Über die Sängerin zuckte man die Achseln. Man urteilte um so unfreundlicher über sie, je ärgerlicher man darüber war, daß so lange nichts Offizielles und Sicheres über ihre Geschichte ins Publikum komme. Ihre Neider, und welche ausgezeichnete Sängerin, wenn sie dazu schön und achtzehn alt ist, hat deren nicht genug? ihre Neider gönnten ihr alles und machten hämische Bemerkungen, die Gemäßigten sagten: „So ist es mit solchem Volke; einer Deutschen wäre dies auch nicht passiert.“ Ihre Freunde beklagten sie und fürchteten für ihren Ruf beinahe noch mehr als für ihre Gesundheit. „Das arme Mädchen!“ dachte Lange und beschloß, um so eifriger ihr zu dienen.
Vom Kapellmeister wußte man wenig, weder Schlechtes, noch Gutes. Er war vor etwa drei Vierteljahren nach B. gekommen, hatte sich im Hôtel de Portugal ein Dachstübchen gemietet und lebte sehr eingezogen und mäßig. Er schien sich von Gesangstunden und musikalischen Kompositionen zu nähren. Alle wollten übrigens etwas Überspanntes, Hochfahrendes an ihm bemerkt haben; die, welche ihn näher kennen gelernt hatten, fanden ihn sehr interessant, und schon mancher Musikfreund soll sich ein Kouvert an der Abendtafel im Hôtel de Portugal bestellt haben, nur um seine herrliche Unterhaltung über die Musik zu genießen. Aber auch diese kamen darin überein, daß es mit Boloni nicht ganz richtig sei, denn er vernachlässige, verachte sogar den weiblichen Gesang, während er mit Entzücken von Männerstimmen, besonders von Männerchören spreche. Er hatte übrigens keinen näheren Bekannten, keinen Freund; von seinem Verhältnis zur Sängerin Bianetti schien niemand etwas zu wissen.
Den Kommerzienrat Bolnau fand er noch immer unwohl und im Bette; er schien sehr niedergeschlagen und sprach mit unsicherer, heiserer Stimme allerlei Unsinn über Dinge, die sonst gänzlich außer seinem Gesichtskreise lagen. Er hatte eine Sammlung berühmter Rechtsfälle um sich her, in welcher er eifrig studierte; die Frau Kommerzienrätin behauptete, er habe die ganze Nacht darin gelesen und hie und da schrecklich gewinselt und gejammert. Seine Lektüre betraf besonders die unschuldig Hingerichteten, und er äußerte gegen den Medizinalrat, es liege eigentlich für den Menschenfreund ein großer Trost in der Langsamkeit der deutschen Justiz; denn es lasse sich erwarten, daß, wenn ein Prozeß zehn und mehrere Jahre daure, die Unschuld doch leichter an den Tag komme, als wenn man heute gefangen und morgen gehangen werde.
Die Sängerin Bianetti, für welche der Doktor endlich ein Stündchen erübrigt hatte, war düster und niedergeschlagen, als seie keine Hoffnung mehr für sie auf Erden. Ihr Auge war trübe, sie mußte viel geweint haben, die Wunde war über alle Erwartung gut; aber mit ihrem zunehmenden körperlichen Wohlbefinden schien die Ruhe und Gesundheit ihrer Seele zu schwinden. „Ich habe lange darüber nachgedacht“, sagte sie, „und fand, daß Sie, lieber Doktor, doch auf höchst sonderbare Weise in mein Schicksal verwebt werden. Ich kannte Sie vorher nicht; ich gestehe, ich wußte kaum, daß ein Medizinalrat Lange in B. existiere. Und jetzt, da ich mit einem Schlage so unglücklich geworden bin, sendet mir Gott einen so teilnehmenden, väterlichen Freund zu.“
„Mademoiselle Bianetti“, erwiderte Lange, „der Arzt hat an manchem Bette mehr zu tun, als nur den Puls an der Linken zu fühlen, Wunden zu verbinden und Mixturen zu verschreiben. Glauben Sie mir, wenn man so allein bei einem Kranken sitzt, wenn man den inneren Puls der Seele unruhig pochen hört, wenn man Wunden verbinden möchte, die niemand siehet, da wird auf wunderbare Weise der Arzt zum Freunde, und der geheimnisvolle Zusammenhang zwischen Körper und Seele scheint auch in diesem Verhältnisse auffallend zu wirken.“
„So ist es“, sprach Giuseppa, indem sie zutraulich seine Hand faßte; „so ist es, und auch meine Seele hat einen Arzt gefunden. Sie werden vielleicht viel für mich tun müssen. Es möchte sein, daß sie sogar vor den Gerichten in meinem Namen handeln müssen. Wenn Sie einem armen Mädchen, das sonst gar keine Stütze hat, dieses große Opfer bringen wollen, so will ich mich Ihnen entdecken.“
„Ich will es tun“, sprach der freundliche Alte, indem er ihre Hand drückte.
„Aber bedenken Sie es wohl; die Welt hat meinen Ruf angegriffen, sie klagt mich an, sie richtet, sie verdammt mich. Wenn nun die Menschen auch auf Sie höhnisch deuten, daß Sie der verrufenen Sängerin, der schlechten Italienerin, ach! meiner sich angenommen haben, werden Sie das ertragen können?“
„Ich will es“, rief der Doktor mit Ernst und Heftigkeit. „Erzählen Sie!“
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„Mein Vater“, erzählte die Sängerin, „war Antonio Bianetti, ein berühmter Violinspieler, der Ihnen aus jüngern Jahren nicht unbekannt sein kann, denn sein Ruf hatte durch die Konzerte, die er an Höfen und in großen Städten gab, sich überall verbreitet. Ich kann mir ihn nur noch aus meiner frühesten Kindheit denken, wie er mir die Skala vorgeigte, die ich schon im dritten Jahre sehr richtig nachsang. Meine Mutter war zu ihrer Zeit eine vorzügliche Sängerin gewesen und pflegte in den Konzerten des Vaters einige Arien und Kanzonetten vorzutragen. Ich war vier Jahre alt, als mein Vater auf der Reise starb und uns in Armut zurückließ. Meine Mutter mußte sich entschließen, durch Singen uns fortzubringen. Sie heiratete nach einem Jahre einen Musiker, der ihr von Anfang sehr geschmeichelt haben soll, nachher aber zeigte es sich, daß er sie nur geheiratet, um ihre Stimme zu benützen. Er wurde Musikdirektor in W–b–g, einer kleinen deutschen Stadt in Frankreich, und da fing erst unser Leiden recht an.
„Meine Mutter bekam noch drei Kinder und verlor ihre Stimme so sehr, daß sie beinahe keinen Ton mehr singen konnte. Dadurch war die größte Geldquelle meines Stiefvaters versiegt, denn seine Konzerte waren nur durch meine Mutter glänzend und zahlreich gewesen. Er plagte sie von jetzt an schrecklich; mir wollte er gar nicht mehr zu essen geben, bis er endlich auf ein Mittel verfiel, mich brauchbar zu machen. Er marterte mich ganze Tage lang und geigte mir die schwersten Sachen von Mozart, Gluck, Rossini und Spontini ein, die ich dann Sonntag abends mit großem Applaus absang; das arme Schepperl, so hatte man meinen Namen Giuseppa verketzert, wurde eines jener unglücklichen Wunderkinder, denen die Natur ein schönes Talent zu ihrem größten Unglück gegeben hat; der Grausame ließ mich alle Tage singen, er peitschte mich, er gab mir tagelang nichts zu essen, wann ich nicht richtig intoniert hatte; die Mutter aber konnte meine Qualen nicht mehr lange sehen, es war, als ob ihr Leben in ihren stillen Tränen dahinfließe; an einem schönen
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Frühlingsmorgen fanden wir sie tot. Was soll ich Sie von meinen Marterjahren unterhalten, die jetzt anfingen? Ich war eilf Jahre alt und sollte die Haushaltung führen, die kleinen Geschwister erziehen und dabei noch singen lernen für die Konzerte! O, es war eine Qual der Hölle!
Um diese Zeit kam oft ein Herr zu uns, der dem Vater immer einen Sack voll Fünffrankenstücke mitbrachte. Ich kann nicht ohne Grauen an ihn denken. Es war ein großer, hagerer Mann von mittlerem Alter; er hatte kleine, blinzende, graue Augen, die ihn durch ihren unangenehmen, stechenden Ausdruck vor allen Menschen, die ich je gesehen, auszeichneten. Mich schien er besonders liebgewonnen zu haben. Er lobte, wenn er kam, meine Größe, meinen Anstand, mein Gesicht, meinen Gesang. Er setzte mich auf seine Knie, obgleich mich ein unwillkürliches Grauen von ihm wegdrängte; er küßte mich trotz meines Schreiens, er sagte wohlgefällig: ‚Noch zwei – drei Jahr’, dann bist du fertig, Schepperl!‘ Und er und mein Stiefvater brachen in ein wildes Lachen bei dieser Prophezeiung aus. An meinem fünfzehnten Geburtsfest sagte mein Stiefvater zu mir: ‚Höre, Schepperl: du hast nichts, du bist nichts, ich geb’ dir nichts, ich will nichts von dir, habe auch hinlänglich genug an meinen drei übrigen Rangen; die Christel (meine Schwester) wird jetzt statt deiner das Wunderkind. Was du hast, dein bißchen Gesang, hast du von mir, damit wirst du dich fortbringen. Der Onkel in Paris will dich übrigens aus Gnade in sein Haus aufnehmen.‘ – ‚Der Onkel in Paris?‘ rief ich staunend, denn bisher wußte ich nichts von einem solchen. ‚Ja, der Onkel in Paris‘, gab er zur Antwort, ‚er kann alle Tage kommen.‘
Sie können sich denken, wie ich mich freute; es ist jetzt drei Jahre her, aber noch heute ist die Erinnerung an jene Stunden so lebhaft in mir, als wäre es gestern gewesen. Das Glück, aus dem Hause meines Vaters zu kommen, das Glück, meinen Onkel zu sehen, der sich meiner erbarme, das Glück, nach Paris zu kommen, wo ich mir den Sitz des Putzes und der Seligkeit dachte, ich war berauscht von so vielem Glück; so oft ein Wagen fuhr, sah ich hinaus, ob nicht der Onkel komme, mich in sein Reich abzuholen. Endlich fuhr eines Abends ein Wagen vor unserem Hause vor. ‚Das ist dein Onkel‘, rief der Vater; ich flog hinab, ich breitete meine Arme aus nach meinem Erretter – grausame Täuschung! Es war der Mann mit den Fünffrankenstücken.
Ich war beinahe bewußtlos in jenen Augenblicken, aber dennoch vergesse ich die teuflische Freude nie, die aus seinen grauen Augen blitzte, als er mich hoch aufgewachsen fand; noch immer klingt mir seine krächzende Stimme in den Ohren: ‚Jetzt bist du recht, mein Täubchen, jetzt will ich dich einführen in die große Welt.‘ Er faßte mich mit der Hand, mit der andern warf er einen Geldsack auf den Tisch; der Sack fuhr auf, ein glänzender Regen von Silber- und Goldstücken rollte auf den Boden; meine drei kleine Geschwister und der Vater jubelten, rutschten auf dem Boden umher und lasen die Stücke auf – es war – mein Kaufpreis.
Schon den folgenden Tag ging es nach Paris. Der hagere Mann, ich vermochte es nicht, ihn Onkel zu nennen, predigte mir beständig vor, welch glänzende Rolle ich in seinem Salon spielen werde. Ich konnte mich nicht freuen, eine Angst, eine unerklärliche Bangigkeit waren an die Stelle meiner Freude, meines Glückes getreten. Vor einem großen, erleuchteten Hause hielt der Wagen; wir waren in Paris. Zehn bis zwölf schöne, allerliebste Mädchen hüpften die breiten Treppen herab, uns entgegen. Sie herzten und küßten mich und nannten mich Schwester Giuseppa; ich fragte den Hagern: ‚Sind dies Ihre Töchter, mein Herr?‘ – ‚Oui, mes bonnes enfants‘, rief er lachend, und die Mädchen und die zahlreiche Dienerschaft stimmten ein mit einem rohen, schallenden Gelächter.
Schöne Kleider, prachtvolle Zimmer zerstreuten mich. Ich wurde am folgenden Abend herrlich gekleidet; man führte mich in den Salon. Die zwölf Mädchen saßen im schönsten Putz an Spieltischen, auf Kanapees, am Flügel. Sie unterhielten sich mit jungen und älteren Herren sehr lebhaft. Als ich eintrat, brachen alle auf, gingen mir entgegen und betrachteten mich. Der Herr des Hauses führte mich zum Flügel, ich mußte singen; allgemeiner Beifall wurde mir zu teil; man zog mich ins Gespräch, meine ungebildeten, halb italienischen Ausdrücke galten für Naivetät; man bewunderte mich, ich erröte heute noch, mit welchen Worten man mir dieses sagte. So ging es mehrere Tage herrlich und in Freuden. Ich lebte ungeniert, ich hätte zufrieden leben können, wenn ich mich nicht höchst unbehaglich, beinahe bänglich in diesem Hause, in dieser Gesellschaft gefühlt hätte; in meiner naiven Unschuld glaubte ich, so sei nun einmal die große Welt und man müsse sich in ihre Sitten fügen. Eines fiel mir jedoch auf, als ich an einem Abende zufällig an der Treppe vorbeiging, sah ich, daß die Herren, die uns besuchten, dem Portier Geld gaben, dafür blaue oder rote Karten bekamen und solche einem Bedienten vor dem Salon wieder übergaben. Ein junger Stutzer, der an mir vorüberkam, wies mir mit zärtlichen Blicken eine dieser roten Karten; ich weiß heute noch nicht, warum ich darüber errötete. Aber hören Sie weiter, was sich alsbald zutrug.
Sehen Sie, lieber Doktor, hier habe ich ein kleines unscheinbares Papier. Diesem bin ich meine Rettung schuldig. Ich fand es eines Morgens unter den Brötchen meines Frühstücks; ich weiß nicht, von welcher gütigen Hand es kam, aber möge der Himmel das Herz belohnen, das sich meiner erbarmte. Es lautet:
‚Mademoiselle!
Das Haus, welches Sie bewohnen, ist ein Freudenhaus; die Damen, die Sie um sich sehen, sind Freudenmädchen; sollten wir uns in Giuseppa geirrt haben? Wird sie einen kurzen Schimmer von Glück mit langer Reue erkaufen wollen?‘
Es war ein schreckliches Licht, es drohte mich völlig zu erblinden, denn es zerriß beinahe zu plötzlich meinen unschuldigen Kindersinn und den Traum von einer unbesorgten, glücklichen Lage. Was war zu tun? Ich hatte in meinem Leben noch nicht gelernt, Entschlüsse zu fassen. Der Mann, dem dieses Haus gehörte, war mir ein fürchterlicher Zauberer, der jeden meiner Gedanken lesen könne, der jetzt schon darum wissen müsse, was ich erfahren. Und dennoch wollte ich lieber sterben, als noch einen Augenblick hier verweilen. – Ich hatte ein Mädchen geradeüber von unserer Wohnung zuweilen italienisch sprechen hören; ich kannte sie nicht – aber kannte ich denn sonst jemand in dieser ungeheuren Stadt? diese vaterländischen Klänge erweckten Zutrauen in mir; zu ihr wollte ich flüchten, ich wollte sie auf den Knieen anflehen, mich zu retten.
Es war sieben Uhr frühe; ich war meiner ländlichen Gewohnheit treu geblieben, stand immer frühe auf und pflegte gleich nachher zu frühstücken, und dies rettete mich. Um diese Zeit schliefen noch alle, sogar ein großer Teil der Domestiken. Nur der Portier war zu fürchten. Doch konnte er denken, daß jemand aus diesem Tempel der Herrlichkeit entfliehen werde? Ich wagte es, ich warf mein schwarzes, unscheinbares Mäntelchen um mich, eilte die Treppe hinab; meine Kniee schwankten, als ich an der Loge des Portiers vorbeiging; er bemerkte mich nicht; drei Schritte, und ich war frei.
Rechts über die Straße hinüber wohnte das italienische Mädchen. Ich sprang über die breite Straße, ich pochte am Haus, ein Diener öffnete. Ich fragte nach der Signora mit dem schwarzen Lockenköpfchen, die italienisch spreche. Der Diener lachte und sagte, ich meine wohl die kleine Exzellenza Seraphine; ‚dieselbe, dieselbe‘, antwortete ich, ‚führen Sie mich geschwind zu ihr‘. Er schien anfangs Bedenken zu tragen, weil es noch frühe am Tag sei, doch meine Bitten überredeten ihn. Er führte mich in dem zweiten Stock in ein Zimmer, hieß mich warten und rief dann eine Zofe, der Exzellenza mich zu melden. Ich hatte mir gedacht, das hübsche italienische Mädchen werde meines Standes sein; ich schämte mich, einer Höhern mich zu entdecken; aber man ließ mir keine Zeit, mich zu besinnen; die Zofe erschien, mich vor das Bett ihrer Gebieterin zu führen. Ja, sie war es, es war die schöne junge Dame, die ich hatte italienisch sprechen hören. Ich stürzte vor ihr nieder und flehte sie um ihren Schutz an; ich mußte ihr meine ganze Geschichte erzählen. Sie ließ den Diener, der mich heraufgeführt hat, kommen und legte ihm das strengste Stillschweigen auf; dann wies sie mir ein kleines Stübchen an, dessen Fenster in den Hof gingen, gab mir zu arbeiten und zu essen, und so lebte ich mehrere Tage in Freude über meine Rettung, in Angst über meine Zukunft.
Es war das Haus des Gesandten eines kleinen deutschen Hofes, in welches ich aufgenommen war. Die Exzellenza war seine Nichte, eine geborne Italienerin, die bei ihm in Paris erzogen worden war. Sie war ein gütiges, liebenswürdiges Geschöpf, dessen Wohltaten ich nie vergessen werde. Sie kam alle Tage zu mir und tröstete mich; sie sagte mir, daß der Gesandte durch seine Bedienten in dem Hause des argen Mannes nachgeforscht habe. Man seie sehr in Bestürzung, suche es aber zu verbergen. Die Diener drüben flüstern geheimnisvoll, es habe sich eine Mamsell aus einem Fenster des zweiten Stocks in den Kanal der Seine gestürzt. Sonderbare Fügung! Mein Zimmer war ein Eckzimmer und sah mit der einen Seite nach der Straße, die andere ging schroff hinab in einen Kanal. Ich erinnerte mich, an jenem Morgen ein Fenster dieser Seite geöffnet zu haben; wahrscheinlich war es offen geblieben, und so mochte man sich mein Verschwinden erklären. Signora Seraphina sollte um diese Zeit nach Italien zurückkehren, sie war so gütig, mich mitzunehmen. Ja, sie tat noch mehr für mich; sie bewog ihre Eltern in Piacenza, daß sie mich wie ihr Kind in ihr Haus aufnahmen; sie ließ mein Talent ausbilden, ihr habe ich Freiheit, Leben, Kunst, o! vielleicht mehr, als ich weiß, zu danken. In Piacenza lernte ich den Kapellmeister Boloni, der übrigens kein Italiener ist, kennen; er schien mich zu lieben, aber er sagte es mir nicht. Ich nahm bald nachher den Ruf an das hiesige Theater an. Man schätzte mich hier, man hat mir sonst wohlgewollt, mein Leben und mein Ruf war unsträflich, ach, ich habe in dieser langen Zeit nie einen Mann bei mir gesehen, als – ich kann Ihnen dieses schöne Verhältnis ohne Erröten gestehen – als Boloni, der mir bald hieher nachgereist war. Sie haben mein Leben jetzt gehört, sagen Sie mir, habe ich etwas getan, um so bittere Strafe zu verdienen? Habe ich so Entsetzliches verschuldet?“
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Als die Sängerin geendet hatte, ergriff der Medizinalrat lebhaft ihre Hand. „Ich wünsche mir Glück“, sagte er, „den wenigen Menschen, die Sie auf ihrem Lebensweg gefunden haben, beitreten zu können. Meine Kräfte sind zwar zu schwach, um für Sie tun zu können, was die treffliche kleine Exzellenza für Sie tat, aber ich will suchen, Ihr trauriges Geschick entwirren zu helfen, ich will den Brausewind, Ihren Freund, zu versöhnen suchen. Aber sagen Sie mir nur, was ist denn Herr Boloni eigentlich für ein Landsmann?“ – „Da fragen Sie mich zu viel“, erwiderte sie ausweichend; „ich weiß nur, daß er ein Deutscher von Geburt ist und, wenn ich nicht irre, wegen Familienverhältnissen vor mehreren Jahren sein Vaterland verließ. Er hielt sich in England und Italien auf und kam vor etwa drei Vierteljahren hieher.“
„So, so? aber warum haben Sie ihm das, was Sie mir erzählen, nicht schon früher selbst gesagt?“
Giuseppa errötete bei dieser Frage; sie schlug die Augen nieder und antwortete: „Sie sind mein Arzt, mein väterlicher Freund, es ist mir, wenn ich zu Ihnen spreche, als spräche ein Kind zu seinem Vater. – Aber konnte ich denn dem jungen Mann von diesen Dingen erzählen? Und ich kenne ja seine schreckliche Eifersucht, seinen leichtgereizten Argwohn, ich konnte es nie über mich vermögen, ihm zu sagen, welchen Schlingen ich entflohen war.“
„Ich ehre, ich bewundere Ihr Gefühl; Sie sind ein gutes Kind; glauben Sie mir, es tut einem alten Manne wohl, auf solche dezente Gefühle aus der alten Zeit zu stoßen; denn heutzutage gilt es für guten Ton, sich über dergleichen wegzusetzen. Aber noch haben Sie mir nicht alles erzählt; der Abend auf der Redoute, jene schreckliche Nacht? –“
„Es ist wahr, ich muß Ihnen noch weiter sagen. Ich habe, so oft ich im stillen über meine Rettung nachdachte, die Vorsehung gepriesen, daß man in jenem Hause glaubte, ich habe mich selbst getötet; denn es war mir nur zu gewiß, daß, wenn jener Schreckliche nur die entfernte Ahnung von meinem Leben habe, er kommen werden, sein Opfer zurückzuholen oder es zu verderben; denn er mochte manches Fünffrankenstück für mich bezahlt haben. Deswegen habe ich, solange ich in Piacenza war, manches schöne Anerbieten fürs Theater abgelehnt, weil ich mich scheute, öffentlich aufzutreten. Als ich aber etwa anderthalb Jahre dort war, brachte mir eines Morgens Seraphina ein Pariser Zeitungsblatt, worin der Tod des Chevalier de Planto angezeigt war.“
„Chevalier de Planto?“ unterbrach sie der Arzt; „hieß so jener Mann, der Sie aus dem Hause Ihres Stiefvaters führte?“
„So hieß er; ich war voll Freude, meine letzte Furcht war verschwunden, und es stand nichts mehr im Wege, meinen Wohltätern nicht mehr beschwerlich zu fallen. Schon einige Wochen nachher kam ich nach B. Ich ging vorgestern abend auf die Redoute, und ich will Ihnen nur gestehen, daß ich recht freudig gestimmt war. Boloni durfte nicht wissen, in welchem Kostüm ich erscheinen würde, ich wollte ihn necken und dann überraschen. Auf einmal, wie ich allein durch den Saal gehe, flüstert eine Stimme in mein Ohr: ‚Schepperl! was macht dein Onkel?‘ Ich war wie niedergedonnert; diesen Namen hatte ich nicht mehr gehört, seit ich den Händen jenes Fürchterlichen entgangen war; mein Onkel! ich hatte ja keinen, und nur einer hatte gelebt, der sich vor der Welt dafür ausgab, der Chevalier de Planto. Ich hatte kaum so viel Fassung, zu erwidern: ‚Du irrst dich, Maske!‘ Ich wollte hinwegeilen, mich unter dem Gewühl der Menge verbergen, aber die Maske schob ihren Arm in den meinigen und hielt mich fest. ‚Schepperl!‘ sprach der Unbekannte, ‚ich rate dir, ruhig neben mir herzugehen, sonst werde ich den Leuten erzählen, in welcher Gesellschaft du dich früher umhergetrieben.‘ Ich war vernichtet, es wurde Nacht in meiner Seele, nur ein Gedanke war in mir lebhaft, die Furcht vor der Schande. Was konnte ich armes, hilfloses Mädchen machen, wenn dieser Mensch, wer er auch sein mochte, solche Dinge von mir aussagte? die Welt würde ihm geglaubt haben, und Carlo! ach, Carlo wäre nicht der letzte gewesen, der mich verdammt hätte. Ich folgte dem Mann an meiner Seite willenlos. Er flüsterte mir die schrecklichsten Dinge zu; meinen Onkel, wie er den Chevalier nannte, habe ich unglücklich gemacht, meinen Vater, meine Familie ins Verderben gestürzt. Ich konnte es nicht mehr aushalten, ich riß mich los und rief nach meinem Wagen. Als ich mich aber auf der Treppe umsah, war diese schreckliche Gestalt mir gefolgt. ‚Ich fahre mit dir nach Hause, Schepperl‘, sprach er mit schrecklichem Lachen; ‚ich habe noch ein paar Worte mit dir zu reden.‘ Die Sinne vergingen mir, ich fühlte, daß ich ohnmächtig werde, ich wachte erst wieder im Wagen auf, die Maske saß neben mir. Ich stieg aus und ging auf mein Zimmer, er folgte; er fing sogleich wieder an zu reden; in der Todesangst, ich möchte verraten werden, schickte ich Babette hinaus.
‚Was willst du hier, Elender!‘ rief ich voll Wut, mich so beleidigt zu sehen. ‚Was kannst du von mir Schlechtes sagen? Ohne meinen Willen kam ich in jenes Haus; ich verließ es, als ich sah, was dort meiner warte.‘
‚Schepperl, mache keine Umstände, es gibt nur zwei Wege, dich zu retten. Entweder zahlst du auf der Stelle zehntausend Franken, sei es in Juwelen oder Gold, oder du folgst mir nach Paris; sonst weiß morgen die ganze Stadt mehr von dir, als dir lieb ist.‘ Ich war außer mir. ‚Wer gibt dir dieses Recht, mir solche Zumutungen zu machen?‘ rief ich; ‚wohlan! sage der Stadt, was du willst; aber auf der Stelle verlasse dieses Haus! ich rufe die Nachbarn.‘
Ich hatte einige Schritte gegen das Fenster getan, er lief mir nach, packte meinen Arm. ‚Wer mir das Recht gibt?‘ sprach er; ‚dein Vater, Täubchen, dein Vater.‘ Ein teuflisches Lachen tönte aus seinem Mund, der Schein der Kerze fiel auf ein Paar graue, stechende Augen, die mir nur zu bekannt waren. In demselben Moment war mir klar, wen ich vor mir hatte; ich wußte jetzt, daß sein Tod nur ein Blendwerk war, das er zu irgend einem Zweck erfunden hatte; die Verzweiflung gab mir übernatürliche Kraft; ich rang mich los, ich wollte ihm seine Maske abreißen. ‚Ich kenne Euch, Chevalier de Planto‘, rief ich, ‚aber Ihr sollt den Gerichten Rechenschaft über mich geben müssen.‘ – ‚So weit sind wir noch nicht, Täubchen‘, sagte er, und in demselben Augenblick fühlte ich sein Eisen in meiner Brust, ich glaubte zu sterben.“
Der Doktor schauderte; es war heller Tag, und doch graute ihm, wie wenn man im Dunkeln von Gespenstern spricht. Er glaubte das heisere Lachen dieses Teufels zu hören, er glaubte hinter den Gardinen des Bettes die grauen, stechenden Augen dieses Ungeheuers glänzen zu sehen. „Sie glauben also“, sagte er nach einer Weile, „daß der Chevalier nicht tot ist, daß es derselbe ist, der Sie ermorden wollte?“
„Seine Stimme, sein Auge überzeugten mich; das Tuch, das ich Ihnen gestern gab, machte es mir zur Gewißheit. Die Anfangslettern seines Namens sind dort eingezeichnet.“
„Und geben Sie mir Vollmacht, für Sie zu handeln? darf ich alles, was Sie mir sagten, selbst vor Gericht angeben?“
„Ich habe keine Wahl, alles! Aber nicht wahr, Doktor, Sie gehen zu Boloni und sagen ihm, was ich Ihnen sagte? Er wird Ihnen glauben; er kannte ja auch Seraphine.“
„Und darf ich nicht auch wissen“, fuhr der Medizinalrat fort, „wie der Gesandte hieß, in dessen Haus Sie sich verbargen?“
„Warum nicht? Es war ein Baron Martenow.“
„Wie?“ rief Lange in freudiger Bewegung, „der Baron Martenow? Ist er nicht in …schen Diensten?“
„Ja, kennen Sie ihn? Er war Gesandter des …schen Hofes in Paris und nachher in Petersburg.“
„O, dann ist es gut, sehr gut“, sagte der Medizinalrat und rieb sich freudig die Hände. „Ich kenne ihn, er ist seit gestern hier; er hat mich rufen lassen; er wohnt ihm Hôtel de Portugal.“
Eine Träne blinkte in dem Auge der Sängerin, und von frommen Empfindungen schien ihr Herz bewegt. „So mußte ein Mann“, sagte sie, „den ich viele hundert Meilen entfernt glaubte, hieher kommen, um die Wahrheit meiner Erzählung zu bekräftigen! Gehen Sie zu ihm; ach, daß auch Carlo zuhören könnte, wenn er Ihnen versichert, daß ich die Wahrheit sprach!“
„Er soll es, er soll mit mir, ich will es schon machen. Adieu, gutes Kind; sein Sie recht ruhig, es muß Ihnen noch gut gehen auf Erden, und nehmen Sie die Mixtur recht fleißig, alle Stunden zwei Löffel voll!“ So sprach der Doktor und ging. Die Sängerin aber dankte ihm durch ihre freundlichen Blicke. Sie war ruhiger und heiter; es war, als habe sie eine große Last mit ihrem Geheimnis hinweggewälzt; sie sah vertrauungsvoller in die Zukunft, denn ein gütiges Geschick schien sich des armen Mädchens zu erbarmen.
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Der Baron Martenow, dem Lange früher einmal einen wichtigen Dienst zu leisten Gelegenheit gehabt hatte, nahm ihn freundlich auf und gab ihm über die Sängerin Bianetti die genügendsten Aufschlüsse. Er bestätigte nicht nur beinahe wörtlich ihre Erzählung, sondern er brach auch in die lautesten Lobeserhebungen ihres Charakters aus; ja, er versprach, wohin er in dieser Stadt kommen würde, überall zu ihren gunsten zu sprechen und die Gerüchte zu widerlegen, die über sie im Umlauf waren. Er hat auch Wort gehalten, denn hauptsächlich seinem Ansehen und der edelmütigen Art, womit er sich der Italienerin annahm, schrieben es ihre Freunde zu, daß die Gesinnungen des Publikums über sie in wenigen Tagen wie durch einen Zauberschlag sich änderten. Der Medizinalrat Lange aber stieg an jenem Tage, als er vom Gesandten kam, aus der Beletage des Hôtel de Portugal noch einige Treppen höher, in die Mansarden; in Nr. 54 sollte der Kapellmeister wohnen. Er stand vor der Türe still, um Atem zu schöpfen, denn die steilen Treppen hatten ihn angegriffen. Sonderbare Töne drangen aus dieser Türe in sein Ohr. Es schien ein schwer Kranker darin zu sein, denn er vernahm ein tiefes Stöhnen und Seufzen, das aus der tiefsten Brust aufzusteigen schien. Dann klangen wieder schreckliche französische und italienische Flüche dazwischen, wie wenn Ungeduld dem Jammer Luft machen will, und ein heiseres Lachen der Verzweiflung bildete wieder den Übergang zu jenen tiefen Seufzern. Der Medizinalrat schauderte. „Habe ich doch schon neulich etwas weniges Wahnsinn an dem Maestro verspürt“, dachte er, „sollte er vollends übergeschnappt sein, oder ist er krank geworden aus Schmerz?“ Er hatte schon den Finger gekrümmt, um anzuklopfen, als sein Blick noch einmal auf die Nummer der Türe fiel; es war 53. Wie hatte er sich doch so täuschen können; fast wäre er zu einem ganz fremden Menschen eingetreten. Unwillig über sich selbst ging er eine Türe weiter; hier war 54; hier lautete es auch ganz anders. Eine tiefe, schöne Männerstimme sang ein Lied, begleitet von dem Pianoforte; der Medizinalrat trat ein; es war jener junge Mann, den er gestern bei der Sängerin gesehen.
Im Zimmer lagen Notenblätter, Guitarre, Violinen, Saiten und anderer Musikbedarf umher, und mitten unter diesen Trümmern stand der Kapellmeister in einem weiten, schwarzen Schlafrock, eine rote Mütze auf dem Kopf und eine Notenrolle in der Hand; der Doktor hat nachher gestanden, es sei ihm bei seinem Anblick Marius auf den Trümmern von Karthago eingefallen.
Der junge Mann schien sich seiner von gestern zu erinnern und empfing ihn beinahe finster; doch war er so artig, einen Stoß Notenblätter mit einem Ruck von einem Sessel auf den Boden zu werfen, um seinem Besuch Platz anzubieten; er selbst stieg mit großen Schritten im Zimmer umher, und sein fliegender Schlafrock nahm geschickt den Staub von Tischen und Büchern.
Er ließ den Medizinalrat nicht zum Wort gelangen, er überschrie ihn. „Sie kommen von ihr?“ rief er. „Schämen sich Ihre grauen Haare nicht, der Kuppler eines solchen Weibes zu werden? Ich will nichts mehr hören; ich habe mein Glück zu Grabe getragen, Sie sehen, ich traure um meine Seligkeit; ich habe meinen schwarzen Schlafrock an, schon dies sollte Ihnen, wenn Sie sich entfernt auf Psychologie verstehen, ein Zeichen sein, daß ich jene Person für mich als gestorben ansehe. O Giuseppa, Giuseppa!“
„Wertester Herr Kapellmeister“, unterbrach ihn der Doktor, „so hören Sie mich nur an –“
„Hören? Was wissen Sie von Hören? Lauschen Sie, wenn Sie von Hören spechen; ich will prüfen, ob du Gehör hast, Alter! Siehe, das ist das Weib“, fuhr er fort, indem er den Flügel aufriß und einiges spielte, das übrigens dem Doktor, der kein großer Musikkenner war, vorkam wie andere Musik auch; „hören Sie dieses Weiche, Schmelzende, Anschmiegende? Aber bemerken Sie nicht in diesen Übergängen das unzuverlässige, flüchtige, charakterlose Wesen dieser Geschöpfe? Aber hören Sie weiter“, sprach er mit erhobener Simme und glänzendem Auge, indem er die weiten Ärmel des Trauerschlafrockes zurückschüttelte, „wo Männer wirken, ist Kraft und Wahrheit; hier kann nichts Unreines aufkommen, es sind heilige, göttliche Laute!“ Er hämmerte mit großer Macht auf den Tasten umher, aber dem Doktor wollte es wieder bedünken, als seie dies nur ganz gewöhnliche Musik.
„Sie haben da eine sonderbare Charakteristik der Menschen“, sagte er; „da wir doch einmal so weit sind, dürfte ich Sie nicht bitten, Verehrter, daß Sie mir doch einmal einen Medizinalrat auf dem Klavier vorstellten?“
Der Musiker sah ihn verächtlich an; „wie magst du nur mit einem schlechten, quikenden Cis hereinfahren, Erdenwurm, wenn ich den herrlichen, strahlenwerfenden Akkord anschlage!“
Die Antwort des Doktors wurde durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen; eine kleine verwachsene Figur trat herein, machte eine Referenz und sprach: „Der kranke Herr auf Nr. 53 läßt den Herrn Kapellmeister höflichst ersuchen, doch nicht so gar erschrecklich zu hantieren und zu haselieren, was maßen derselbe von gar schwacher Konstitution und dem zeitlichen Hinscheiden nahe ist.“
„Ich lasse dem Herrn meinen gehorsamsten Respekt vermelden“, erwiderte ihm der junge Mann, „und meinetwegen könne er abfahren, wann es ihm gefällig. Es graut mir ohnedies alle Nacht vor seinem Jammern und Stöhnen, und das Greulichste sind mir seine gottlosen Flüche und sein tolles Lachen. Meint vielleicht der Franzose, er seie allein Herr im Hôtel de Portugal? Geniert er mich, so geniere ich ihn wieder.“
„Aber verzeihen Euer Hochedelgeboren“, sagte der verwachsene Mensch, „er treibt’s nicht mehr lange, wollten Sie ihm nicht die letzten Augenblicke –“
„Ist er so gar krank, der Herr?“ fragte der Medizinalrat teilnehmend; „was fehlt ihm, wer behandelt ihn? wer ist er?“
„Wer er ist, weiß ich gerade nicht; ich bin der Lohnlakai; ich denke, er nennt sich Lorier und ist aus Frankreich; vorgestern war er noch wohlauf, aber etwas melancholisch, denn er ging gar nicht aus, hatte auch keine Lust, die Merkwürdigkeiten dieser Stadt zu sehen, aber am andern Morgen fand ich ihn schwer krank im Bette; es scheint, er hat in der Nacht einen Schlaganfall bekommen. Aber um alle Welt will er keinen Arzt. Er flucht gräßlich, wenn ich frage, ob ich keinen zu ihm führen solle. Er pflegt und verbindet sich selbst; ich glaube, er hat auch eine alte Schußwunde aus dem Krieg, die jetzt wieder aufgegangen ist.“
Man hörte in diesem Augenblicke den Kranken nebenan mit heiserer Stimme rufen und einige Verwünschungen ausstoßen. Der Lohnlakei schlug drei Kreuze und flog hinüber.
Der Doktor versuchte noch einmal, ob seine Reden bei dem verstockten Liebhaber keinen Eingang fänden, und wirklich schien es diesmal zu gelingen. Er hatte eine Partitur in die Hand genommen, aus welcher er mit leiser Stimme vor sich hinsang; der Doktor benützte diese ruhigere Stimmung und fing an, ihm das Leben der Sängerin zu erzählen. Anfangs schien der Kapellmeister nicht darauf zu achten; er las emsig in seiner Partitur und tat, als sei außer ihm niemand im Zimmer; nach und nach aber wurde er aufmerksamer, er hörte auf zu singen; bald hob sich zuweilen sein Auge über die Partitur und streifte glühend über des Doktors Gesicht, dann ließ er das Notenheft senken und sah den Erzähler fest an, sein Interesse schien mehr und mehr zu wachsen, seine Augen glänzten, er rückte näher, er faßte den Arm des Mediziners, und als dieser seine Erzählung schloß, sprang er in großer Bewegung auf und rannte im Zimmer auf und nieder. „Ja“, rief er, „es liegt Wahrheit darin, ein Schein von Wahrheit, eine Wahrscheinlichkeit; es ist möglich, es könnte etwa so gewesen sein; Teufel! könnte es nicht auch eine Lüge sein?“
„Das heißt man, glaube ich, decrescendo in Ihrer werten Kunst, Herr Kapellmeister; aber warum denn bei dieser Sache so von der Wahrheit bis zur Lüge herabsteigen? Wenn ich Ihnen nun einen Bürgen für die Wahrheit stellte? Maestro, wie dann?“
Boloni blieb sinnend vor ihm stehen: „Ha! wer dieses könnte, Medizinalrat, in Gold wollte ich dich fassen, schon dieser Gedanke verdient groß und königlich belohnt zu werden. Ja! wer mir Bürge wäre! – Es ist alles so finster – verworrene Labyrinthe – kein Ausgang – kein leitendes Gestirn!“
„Wertgeschätzter Freund“, unterbrach ihn der Doktor, „ich ertappe Sie hier auf einer Reminiszenz aus Schillers „Räubern“, so in der Cottaschen Taschenausgabe stehet, wenn ich mich recht erinnere. Demungeachtet weiß ich einen solchen Bürgen, ein solches leitendes Gestirn.“
„Ha! wer mir einen solchen gäbe!“ rief jener; „er sei mein Freund, mein Engel, mein Gott – ich will ihn anbeten!“
„Es ist zwar in der angeführten Stelle von einem Schwert die Rede, womit man der Otternbrut eine brennende Wunde versetzen will; nichtsdestoweniger aber will ich Sie überzeugen; jener Gesandte, der die arme Giuseppa in seinem Hause aufnahm, logiert zufällig hier im Hause auf Nr. 6; belieben Sie einen Frack anzuziehen und ein Halstuch umzuknüpfen, so werde ich Sie zu ihm führen; er hat mir versprochen, Sie zu überzeugen.“
Der junge Mann drückte gerührt die Hand des Arztes, doch auch jetzt noch konnte er ein gewisses erhabenes Pathos nicht verbergen. „Ihr wart mein guter Engel“, sagte er; „wie vielen Dank bin ich für diesen Wink Euch schuldig; ich fahre nur geschwind in meinen Frack, und sogleich folg’ ich Euch zu dem Gesandten.“
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Die Aussöhnung mit dem Geliebten schien beinahe noch von größerer Wirkung auf die Sängerin zu sein als die kunstreichsten Tränklein ihres Arztes. Ihre Gesundheit besserte sich in den nächsten Tagen zusehends, und bald war sie so weit hergestellt, daß sie die Besuchte ihrer teilnehmenden Freunde außer dem Bette empfangen konnte. Diese Wendung ihres Zustandes mochte der Direktor der Polizei abgewartet haben, um die Sache weiter zu verfolgen. Er war ein umsichtiger Mann, und der Ruf sagte von ihm, daß ihm nicht leicht einer entgehe, auf den er einmal sein Auge geworfen, sollte er auch hundert und mehrere Meilen entfernt sein. Von dem Medizinalrat war ihm die Geschichte der Sängerin mitgeteilt worden, er hatte sodann mit dem Baron Martenow noch weitere Rücksprache genommen und einiges erfahren, was ihm von großem Interesse schien. Der Gesandte hatte ihm nemlich gestanden, daß er von dem Vorfall mit der jungen Bianetti Gelegenheit genommen, das ruchlose Leben des Chevalier de Planto höheren Orts zu berühren. Er hatte nicht versäumt, hauptsächlich den Umstand, daß jenes arme Kind eigentlich verkauft wurde, ins rechte Licht zu setzen. Jenes berüchtigte Haus wurde kurze Zeit darauf von der Polizei aufgehoben, und der Baron schien dies hauptsächlich den Schritten, die er in der Sache getan, zuzuschreiben. Auch er hatte von dem Tod des Chevaliers gehört, glaubte aber mit dem Polizeidirektor, daß dies nur ein Kunstgriff gewesen sei, um sein Gewerbe sicherer fortzusetzen, denn beide hegten keinen Zweifel, jener Mordversuch an der Sängerin könne nur von diesem schrecklichen Menschen herrühren. Wie schwer war es aber, der Spur dieses Mörders zu folgen; die Fremden, die sich damals zu B. aufhielten, waren, wie der Direktor versicherte, alle unverdächtig; nur zwei Umstände konnten zu Gewisserem führen; das Schnupftuch, welches sich im Zimmer der Bianetti gefunden hatte, könnte, wenn man irgendwo ein ähnliches sah, zur Entdeckung leiten; es war daher die genaueste Beschreibung davon in den Händen aller jener Nähterinnen und Waschfrauen, welche die Garderobe der Fremden in B. zu besorgen pflegten. Sodann glaubte der Direktor aus psychologischen Gründen annehmen zu können, daß ein zweiter Versuch auf das Leben der Sängerin bald folgen würde, im Falle sich nämlich der Mörder noch in der Nähe aufhielte.
Sobald daher die Sängerin wieder bei Kräften war, begleitete der Direktor der Polizei den Doktor Lange, so oft er sie besuchte; es wurden dort manche Maßregeln besprochen, manche schienen gut, aber nicht wohl auszuführen, manche wurde geradehin verworfen. Giuseppa selbst kam endlich auf einen Gedanken, der den beiden Männern sehr einleuchtete. „Der Doktor“, sagte sie, „hat mir erlaubt, in der nächsten Woche wieder auszugehen; wenn er nichts dagegen hat, würde ich auf der letzten Redoute des Karnevals zuerst wieder unter den Leuten erscheinen; es hat etwas Anziehendes für mich, mich dort, wo mein Unglück eigentlich anfing, zum erstenmal zu zeigen. Wenn wir dafür sorgen, daß dies in B. hinlänglich bekannt wird, und wenn der Chevalier noch hier ist, so bin ich wie von meinem Leben überzeugt, daß er unter irgend einer Maske sich wieder in meine Nähe dringt. Er wird sich zwar hüten, zu sprechen, er wird durch nichts sich verraten, aber seine Anschläge auf mein Leben wird er nicht ruhen lassen, und ich will ihn aus Tausenden erkennen. Seine Größe, seine Gestalt, vor allem seine Augen, werden mir ihn kenntlich machen. Was meinen Sie, meine Herren?“
Der Plan schien nicht übel. „Ich wollte wetten“, sagte der Direktor, „wenn er erfährt, Sie kommen auf diesen Ball, so bleibt er nicht aus; sei es auch nur, um den Gegenstand seiner Rache wieder zu sehen und seiner Wut neue Nahrung zu geben. Ich denke übrigens, Sie sollten keine Larve vors Gesicht nehmen, er wird Sie dann um so leichter erkennen, um so eher in Ihre Nähe, in seine Falle gehen; ich werde ein paar tüchtige Bursche in Dominos stecken und sie Ihnen zur Eskorte geben; auf ein Zeichen von Ihnen soll der alte Fuchs gefangen sein.“
Babette, das Kammermädchen der Sängerin, war während dieses Gespräches ab- und zugegangen; sie hatte gehört, wie ihre Dame entschlossen sei, den Mörder oder seine Gehülfen ausfindig zu machen, sie glaubte es sich selbst schuldig zu sein, nach Kräften zu dieser Entdeckung beizutragen. Sie paßte daher den Direktor ab, faßte sich ein Herz und sagte, sie habe schon neulich den Doktor auf einen Umstand aufmerksam gemacht, der zur Entdeckung führen könnte, er scheine aber nicht darauf zu achten.
„Kein Umstand ist bei solchen Vorfällen gering, meine liebe Kleine“, antwortete der Mann der Polizei; „wenn Sie irgend etwas wissen –“
„Ich glaube fast, Signora ist zu diskret und will nicht recht mit der Sprache heraus; als sie den Stich bekam und in meinen Armen ohnmächtig wurde, war ihr letzter Seufzer – Bolnau.“
„Wie?“ rief der Direktor entrüstet, „und das verschwieg man mir bis jetzt? Einen so wichtigen Umstand; haben Sie auch recht gehört, Bolnau?“
„Auf meine Ehre“, sagte die Kleine und legte die Hand beteurend auf das Herz. „Bolnau, sagte sie und so schmerzlich, daß ich nicht anders glaube, als so heißt der Mörder; „aber bitte, verraten Sie micht nicht!“
Der Direktor hatte den Grundsatz, daß kein Mensch, er sehe so ehrlich aus, als er wolle, zu gut zu einem Verbrechen sei. Der Kommerzienrat Bolnau, und einen andern wußte er nicht in dieser Stadt, war ihm zwar als ein geordneter Mann bekannt, aber – hatte man nicht Beispiele, daß gerade solche Leute, denen man vor der Welt nichts nachsagen konnte, der Justiz am meisten zu schaffen machten? Konnte er nicht mit diesem Chevalier de Planto unter einer Decke spielen? Er setzte unter diesen Betrachtungen seinen Weg weiter fort, er näherte sich der Breiten Straße, es fiel ihm bei, daß um diese Zeit der Kommerzienrat sich dort zu ergehen pflegte; er beschloß, ihm ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Richtig, dort kam er die Straße herab, er grüßte rechts, er grüßte links, er sprach alle Augenblicke mit einem Bekannten, er lächelte, wenn er weiter ging, vor sich hin, er schien munter und guter Dinge zu sein. Er mochte etwa noch fünfzig Schritte vom Direktor entfernt sein, als er diesen ansichtig wurde; er erbleichte, er wandte um und wollte in eine Seitenstraße einbiegen. „Ein verdächtiger, sehr verdächtiger Umstand!“ dachte der Direktor, lief ihm nach, rief seinen Namen und brachte ihn zum Stehen. Der Kommerzienrat war ein Bild des Jammers; er bracht in hohlen Tönen ein „Bon jour, bon jour“ hervor, er schien lächeln zu wollen, aber die Augen gingen ihm über und sein Gesicht verzog sich krampfhaft; seine Kniee zitterten, seine Zähne schlugen hörbar aneinander.
„Ei, ei, Sie machen sich recht rar. Habe Sie schon ein paar Tage nicht an meinem Fenster vorbeigehen sehen; Sie scheinen nicht recht wohl zu sein?“ setzte der Direktor mit einem stechenden Blicke hinzu. „Sie sind so blaß; fehlt Ihnen etwas?“
„Nein – es ist nur so ein kleines Frösteln – ich war wirklich einige Tage nicht wohl, aber Gottlob, es geht mir besser.“
„So? Sie waren nicht wohl?“ fragte jener weiter, „das hätte ich kaum gedacht; ich glaubte, Sie doch noch vor wenigen Tagen auf der Redoute recht munter zu sehen.“
„Ja freilich; aber gleich den folgenden Tag mußte ich mich legen; ich bekam meine Zufälle wieder, aber ich bin jetzt ganz wieder hergestellt.“
„Nun, da werden Sie nicht versäumen, die nächste Redoute zu besuchen; es ist die letzte und soll sehr brillant werden, ich hoffe Sie dort zu sehen; bis dahin adieu! Herr Kommerzienrat.“
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„Werde nicht mankieren!“ rief ihm der Kommerzienrat Bolnau mit jammervollen Mienen nach. „Der hat Verdacht!“ sprach er zu sich, „der weiß etwas von dem Wort der Sängerin. Zwar soll sie wieder hergestellt sein; aber kann nicht der Verdacht im Herzen dieses Polizisten um sich fressen? Kann er mich nicht aus Argwohn beobachten lassen? Die geheime Polizei wird mich verfolgen; auf allen meinen Schritten und Tritten sehe ich schlaue, fremde Gesichter. Ich darf nichts mehr reden, so wird es rapportiert, gedeutet; ich werde, o Gott im Himmel, ich werde ein unruhiger Kopf, ein gefährliches Individuum; und doch lebte ich still und harmlos wie Wilhelm Tell im vierten Akt!“
So sprach der unglückliche Bolnau bei sich; seine Angst vermehrte sich, als er über die verfängliche Frage wegen der nächsten Redoute nachdachte. „Er meint gewiß, ich werde mich nicht in die Nähe der Sängerin wagen, aus bösem Gewissen; aber ich muß hin, ich muß ihm diesen Verdacht benehmen! Und doch – wird mich nicht in ihrer Nähe ein Zittern und Beben überfallen, gerade weil er glauben kann, ich werde aus Gewissensbissen und Angst zittern?“ Er quälte sich ab mit diesen Vorstellungen, sie beschäftigten ihn tagelang, er erinnerte sich, daß ein berühmter Schriftsteller in einer Schrift bewiesen habe, daß man Angst vor der Angst haben könne, und dies schien ihm ganz sein Fall zu sein. Aber er fühlte, daß er sich ein Herz fassen und der Gefahr entgegengehen müsse. Er ließ sich vom Maskenverleiher den prachtvollen Anzug des Pascha von Janina holen; er zog ihn alle Tage an und übte sich vor einem großen Spiegel, recht unbefangen aus seiner Maske hervorzuschauen. Er machte sich aus seinem Schlafrock eine Puppe und setzte sie auf einen Sessel; sie stellte die Sängerin Bianetti vor. Er ging als Pascha um sie her, näherte sich ihr und sprach: „Es freuet mich unendlich, Sie in so erwünschtem Wohlbefinden zu sehen.“ Am dritten Tag konnte er seine Lektion schon ganz ohne Zittern sagen, daher legte er sich noch Schwereres auf. Er wollte recht artig und unbefangen sein und ihr einen Teller mit Bonbons und Punsch offerieren. Er übte sich mit einem Glas Wasser, das er auf einen Teller setzte. Von Anfang klirrte es schrecklich in seiner zitternden Hand; aber auch diese Schwachheit überwand er, ja er konnte ganz lustig dazu sagen: „Verehrte, beliebt Ihnen nicht etwas weniges Punsch und etliche Bonbons?“ Es ging trefflich; kein Sterblicher sollte ihn beben sehen. Ali Pascha von Janina fühlte Mut in sich, trotz seiner Angst vor der Angst, auf die Redoute zu gehen.
Der Medizinalrat Lange hatte es sich nicht nehmen lassen, die Genesene zum erstenmal wieder unter die Leute zu führen. Sie hatte es ihm gerne zugesagt; hatte er doch durch seine treue Pflege, durch die väterliche Sorgfalt, womit er sich ihrer angenommen, ein Recht auf ihre wärmste Dankbarkeit gewonnen. So kam er mit ihr auf die Redoute, und er schien sich nicht wenig auf den Platz an der Seite des schönen, interessanten Mädchens zu gut zu tun. Die Leute in B. sind ein sonderbares Volk. In den ersten Tagen hatte man von den nobelsten Salons bis hinab in die Bierschenken von der Sängerin Übles gesprochen, als aber Männer von Gewicht sich ihrer annahmen, als angesehene Damen sich öffentlich für sie erklärten, drehte sich die Fahne nach dem Wind, und die B… liefen, gerührt über das Schicksal des armen Kindes, in den Straßen umher und starben bald vor Entzücken, daß sie genesen. Als sie in den Saal der Redoute trat, schien alles nur auf sie, als die Königin des Festes, gewartet zu haben; man jubelte und jauchzte, man klatschte in die Hände und rief bravo! als hätte sie eben die schwersten Rouladen zu stande gebracht. Auch dem Medizinalrat fiel sein Anteil am Beifall zu: „Sehet, der ist’s“, riefen sie, „das ist ein geschickter Mann, der hat sie gerettet.“
Die Sängerin fühlte sich freudig bewegt von diesem Beifall der Menge; ja sie hätte, berauscht von dem Gemurmel der Glückwünschenden, beinahe vergessen, daß sie noch ein ernsterer Zweck in diesen Saal geführt habe; aber die vier handfesten Dominos, die ihren Schritten folgten, die Fragen des Doktors, ob sie die grauen Augen des Chevaliers noch nicht ansichtig geworden, erinnerten sie immer wieder an ihr Vorhaben. Ihr selbst und dem Doktor war es nicht entgangen, daß ein langer, hagerer Türke (man hieß in B. sein Kostüm den Ali Bassa) sich immer in ihre Nähe dränge, und so oft der Strom der Masken ihn wegriß, immer war er ihnen wieder zur Seite. Die Sängerin stieß den Doktor an und winkte mit den Augen nach dem Pascha hin. Er erwiderte ihren Wink und sagte: „Ich habe ihn schon lange bemerkt.“ Der Pascha näherte sich mit ungewissen Schritten, die Sängerin klammerte sich fester an Langes Arm; er war jetzt ganz nahe, starre, graue Äuglein guckten aus der Maske und eine hohle Stimme sprach zu ihr: „Es freut mich unendlich, wertgeschätzte Mamsell, Sie in so erwünschtem Wohlsein zu sehen.“ Die Sängerin wandte sich erschreckt ab und schien zu zittern; auch die Maske fuhr bei diesem Anblick bebend zurück und verschwand unter der Menge. „Ist er es?“ rief der Medizinalrat. „Fassen Sie sich doch; es gilt hier, ruhig und mit Umsicht zu handeln; glauben Sie, er ist es?“ – „Noch weiß ich es nicht gewiß“, entgegnete sie; „aber ich glaube seine Augen zu erkennen.“
Der Medizinalrat gab den vier Dominos die Weisung, recht genau auf diesen Pascha acht zu geben, und ging mit der Dame weiter. Aber kaum hatte er einige Gänge durch den Saal gemacht, so erschien der Türke wieder; doch hielt er sich mehr in der Entfernung, als beobachte er die Sängerin.
Der Doktor trat mit seiner Dame an ein Büfett, um ihr auf den gehabten Schrecken eine Tasse Tee zu verordnen; er sah sich um – auch hier wieder der Türke. Und siehe da, jetzt hatte er auf einem Tellerlein ein Glas Punsch und einige Bonbons; er nähert sich der Sängerin, seine Augen funkeln, das Glas hüpft und klappert in seltsamen Klängen auf dem zitternden Teller; er ist an ihrer Seite, er bietet ihr den Teller und sagt: „Verehrte, beliebt Ihnen nicht etwas weniges Punsch und etliche Bonbons?“ Die Sängerin sah ihn starr an, sie erbleichte, sie stieß den Teller zurück und rief: „Ha! der Schreckliche! Er ist’s, er ist’s, er will mich vergiften!“
Der Pascha von Janina stand stumm und regungslos, er schien jeden Gedanken an Verteidigung aufzugeben; willenlos ließ er sich von den vier handfesten Dominos hinwegführen.
Beinahe in demselben Augenblicke wurde der Doktor heftig an seinem schwarzen Mantel gezogen; er sah sich um, jener kleine verwachsene Lohnlakai aus dem Hôtel de Portugal stand vor ihm, bleich und von Schrecken entstellt: „Um Gottes Barmherzigkeit willen, Herr Medizinalrat, kommen Sie doch gefälligst mit mir auf Nr. 53, eben will der Teufel den französischen Herrn holen.“
„Was schwatzt Er da?“ sagte der Doktor unwillig und wollte ihn auf die Seite schieben, um dem Gefangenen auf die Polizeidirektion zu folgen; „was geht es mich an, wenn ihn der Satan zu sich nimmt?“
„Aber ich bitte Sie“, rief der Kleine beinahe heulend, „er kann vielleicht doch gerettet werden; Hochdieselben sind ja Stadtphysikus allhier und verpflichtet, zu den Fremden in den Hotellern zu kommen.“
Der Medizinalrat unterdrückte einen Fluch, der ihm auf der Zunge schwebte; er sah, daß er diesem unangenehmen Gang nicht ausweichen könne, er winkte den Kapellmeister Boloni herbei, übergab ihm die Sängerin und eilte mit dem kleinen Menschen nach dem Hôtel de Portugal.
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Es war still und öde in diesem großen Gasthof, Mitternacht war beinahe schon vorüber, die Lampen in den Gängen und Treppen brannten düster und trübe; es war dem Medizinalrat unheimlich zu Mut, als er zu dem einsamen Kranken hinanstieg. Der Lakai schloß die Türe auf, der Doktor trat ein, wäre aber beinahe wieder zurückgesunken. Denn ein Wesen, das seit einigen Tagen unablässig seine Phantasie im Wachen und im Schlafe beschäftigt hatte, saß hier wirklich und verkörpert im Bette. Es war ein großer, hagerer, ältlicher Mann, er hatte eine spitzig aufstehende, wollene Schlafmütze tief in die Stirne gezogen, seine enge Brust, seine langen dünnen Arme waren mit Flanell überkleidet, unter der Mütze ragte eine große, spitzige Nase aus einem mageren, braungelben Gesicht hervor, das man schon tot und erstorben geglaubt hätte, wären es nicht ein Paar graue, stechende Augen gewesen, die ihm noch etwas Leben und einen schrecklichen, grauenerregenden Ausdruck gaben. Seine langen dünnen Finger, die mit den hageren Gelenken weit aus den Ärmeln hervorragten, hatte er zusammengekrümmt, er kratzte mit heiserem, wahnsinnigem Lachen auf der Bettdecke.
„Schaut! er kratzt sich schon sein Grab!“ flüsterte der kleine Mensch und weckte damit den Doktor aus seinem Hinstarren auf den Kranken. So, gerade so hatte sich dieser den Chevalier de Planto gedacht, dieses tückische graue Auge, diese unheilverkündenden Züge, diese dürre, gespensterhafte Figur – es war hier alles, was die Sängerin von jenem schrecklichen Manne gesagt hatte. Doch er besann sich, kam er denn nicht jetzt eben von der Verhaftung jenes Chevaliers? Konnte nicht ein anderer Mann auch graue Augen haben? War es zu verwundern, daß ein Kranker abgefallen und bleich war? Der Doktor lachte sich selbst aus, fuhr mit der Hand über die Stirne, als wolle er diese Gedanken hinwegwischen, und trat an das Bett. – Doch, noch nie hatte er in so langen Jahren am Bette eines Kranken Grauen und Furcht gefühlt – hier, es war ihm unerklärlich, hier befiel ihn eine Beengung, ein Schauer, den er umsonst abzuschütteln suchte, und er fuhr unwillkürlich zurück, als er lange umsonst nach einem Puls suchte.
„Der dumme Kerl“, rief der Kranke mit heiserer Stimme, indem er bald Französisch, bald schlechtes Italienisch und gebrochenes Deutsch untereinander warf, „der dumme kleine Kerl hat mir, glaube ich, einen Doktor gebracht. Sie werden mir verzeihen. Ich habe nie viel von Ihrer Kunst gehalten. Das einzige, was mich heilen kann, sind die Bäder von Genua; ich habe der bête schon befohlen, daß er mir Postpferde bestellt; ich werde heute nacht noch abfahren.“
„Freilich wird er abfahren“, murmelte der kleine Mensch; „aber mit sechs kohlschwarzen Rappen; und nicht nach Genua, wo der selige Fiesko ertrunken, sondern dahin, wo Heulen und Zähnklappern.“
Der Doktor sah, daß hier wenig mehr zu machen sei; er glaubte die Vorzeichen des nahen Todes in den Augen, in den unruhigen Bewegungen des Kranken zu lesen, selbst jene Sehnsucht zu reisen und hinaus ins Weite zu kommen, war schon oft der Vorbote eines schnellen Endes gewesen. Er riet ihm daher, sich ruhig niederzulegen, und versprach, ihm einen kühlen Trank zu bereiten.
Der Kranke lachte grimmig. „Liegen, ruhig liegen?“ antwortete er. „Wann ich liege, höre ich auf zu atmen; ich muß sitzen, im Wagen muß ich sitzen, fort, weit fort! – Was sagt der kleine Mensch? hat er die Pferde bestellt? Kleiner Hund, hast du mein Gepäck in Ordnung?“
„Ach Herr und Vater!“ krächzte der Kleine; „jetzt denkt er an sein Gepäck; ja, einen schweren Pack Sünden nimmt er mit, der Unmensch. Es ist nicht an den Himmel zu malen, was er geflucht und gotteslästerliche Reden geführt hat.“
Der Medizinalrat faßte noch einmal die Hand des Kranken. „Fassen Sie Vertrauen zu mir“, sagte er; vielleicht kann Ihnen die Kunst doch noch nützen; Ihr Diener sagt mir, es sei Ihnen eine Schußwunde wieder aufgegangen; lassen Sie mich untersuchen.“ Murrend bequemte sich der Kranke dazu, er deutete auf seine Brust. Der Arzt nahm einen schlechtgemachten Verband weg, er fand – eine Stichwunde nahe am Herzen. – Sonderbar! es war dieselbe Größe, derselbe Ort wie die Wunde der Sängerin.
„Das ist eine frische Wunde, ein Stich!“ rief der Doktor und sah den Kranken mißtrauisch an. „Woher haben Sie diese Wunde?“
„Sie glauben wohl, ich habe mich geschlagen? nein, beim Teufel! ich hatte ein Messer in der Brusttasche, fiel eine Treppe herab und habe mich ein wenig geritzt.“
„Ein wenig geritzt!“ dachte Lange. „Und doch wird er an dieser Wunde sterben.“
Er hatte indessen Limonade bereitet und bot sie dem Kranken; diese führte sie mit unsicherer Hand zum Munde, sie schien ihn zu erquicken; er war einige Momente still und ruhig, doch als er sah, daß er einige Tropfen auf die Decke gegossen hatte, fing er an zu fluchen und verlangte ein Schnupftuch. Der Lakai flog zu einem Koffer, schloß auf und brachte ein Tuch heraus – der Doktor sah hin, eine schreckliche Ahnung stieg in ihm auf – er sah wieder hin, es war dieselbe Farbe, derselbe Stoff, es war das Tuch, das man bei der Sängerin gefunden. Der kleine Mensch wollte es dem Kranken überreichen, er stieß es zurück. „Gehe zu allen Teufeln, du Tier! wie oft muß ich es sagen, Eau d’Héliotrope darauf!“ Der Diener holte eine kleine Flasche hervor und besprengte das Tuch; ein angenehmer Geruch verbreitete sich im Zimmer – es war dasselbe Parfüm, das jenes gefundene Tuch an sich getragen.
Der Medizinalrat bebte an allen Gliedern; es war kein Zweifel mehr, er hatte hier den Mörder der Sängerin Bianetti, er hatte den Chevalier de Planto vor sich. Es war ein Hilfloser, ein Kranker, ein Sterbender, der hier im Bette saß, aber dem Doktor war es, als könne er alle Augenblicke aus dem Bette fahren und nach seiner Kehle greifen, er ergriff seinen Hut, es trieb ihn fort aus der Nähe des Schrecklichen.
Der kleine Lakai packte ihn am Rock, als er ihn gehen sah. „Ach, Wohledler!“ stöhnte er. „Sie werden mich doch nicht bei ihm allein lassen wollen? Ich halte es nicht aus; wenn er jetzt stürbe und dann sogleich als flanellenes Gespenst mit der Zipfelmütze auf dem Schädel im Zimmer auf und ab spazierte! Um Gottes Barmherzigkeit willen, verlassen Sie mich nicht!“
Der Kranke grinzte fürchterlich und lachte und fluchte untereinander, er schien dem Kleinen zu Hülfe kommen zu wollen, er streckte ein langes, dürres Bein aus dem Bette, er krallte die dünnen Finger nach dem Doktor. Doch dieser hielt es nicht mehr aus; der Wahnsinn schien ihn anzustecken, er warf den Kleinen zurück und floh aus dem Zimmer, noch auf den untersten Treppen hörte er das gräßliche Lachen des Mörders.
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Am Morgen nach dieser Nacht fuhr ein hübscher Stadtwagen vor dem Hôtel de Portugal vor; es stiegen drei Personen, eine verschleierte Dame und zwei ältliche Herrn heraus und stiegen die Treppe hinan. „Ist der Herr Oberjustizreferendarius Pfälle schon oben?“ fragte der eine dieser Herren den Kellner, der sie hinaufführte; dieser bejahte, und der Herr fuhr fort: „Und doch ist es eine sonderbare Fügung des Schicksals, daß er die Treppe herabstürzt und sich den Dolch in die Brust stoßt, daß er sich selbst verhindert, zu entfliehen, daß gerade Sie, Lange, zu ihm beschieden werden!“
„Gewiß“, sagte die verschleierte Dame, „finden Sie aber nicht auch ein eigentliches Verhängnis in diesen Schnupftüchern? Das eine mußte er bei mir liegen lassen, welcher Zufall! das andere muß er gerade in dem Augenblick verlangen, wo der Doktor noch bei ihm ist.“
„Es mußte so gehen“, erwiderte der zweite Herr, „man kann nichts sagen, als es mußte so kommen. Aber in diesem Strudel hätte ich beinahe etwas vergessen; sagen Sie, was ist es denn mit dem Pascha von Janina? Signora mußte sich offenbar getäuscht haben. Sie haben ihn wieder auf freien Fuß gesetzt? Wer war der arme Teufel?“
„Mit nichten und im Gegenteil“, sprach der erstere, „ich habe mich überzeugt, daß es ein Mitschuldiger des Chevalier ist, dem ich schon lange auf der Spur bin. Ich habe ihn schon hieher bringen lassen, er wird mit dem Mörder konfrontiert werden.“
„Nicht möglich!“ rief die Dame; „ein Mitschuldiger?“
„Ja! ja!“ sagte der Herr mit schlauem Lächeln, „ich weiß allerlei, wenn man mir es auch nicht angibt. Aber Gottlob, wir sind oben, hier ist ja gleich Nr. 53. Mademoiselle, haben Sie die Güte, einstweilen hier auf 54 einzutreten; der Kapellmeister hat es erlaubt und wird Sie nicht hinauswerfen; dafür wollte ich stehen. Wann das Verhör an Sie kommt, werde ich Sie rufen.“
Wir brauchen nicht erst zu sagen, daß diese drei Personen die Sängerin, der Doktor und der Direktor waren; sie kamen, um den Chevalier de Planto eines Mordversuches anzuklagen. Der Direktor und der Medizinalrat traten ein; der Kranke saß noch ebenso im Bette, wie ihn der Doktor in der Nacht gesehen; nur schienen beim Tageslicht seine Züge noch krasser, der Ausdruck seiner Augen, die schon zu erstarren anfingen, noch schauerlicher. Er sah bald den Doktor, bald den Direktor mit seelenlosen Blicken an, dann schien er nachzusinnen, was hier in seinem Zimmer vorgehe, denn der Referendarius Pfälle, ein kurzer, junger Mann mit roten Wangen und kleinen Äuglein, hatte sich einen Tisch zurecht gestellt, einen Stoß Papier vor sich hingelegt und hielt eine lange Schwanenfeder in der Rechten, um zu protokollieren.
„Bête, was wollen diese Herren?“ rief der Kranke mit schwacher Stimme dem kleinen Lakaien zu. „Du weißt ja, ich nehme keine Besuche an.“
Der Direktor trat dicht vor ihn hin, sah ihn fest an und sagte mit Nachdruck: „Chevalier de Planto!“
„Qui vive!“ schrie der Kranke und fuhr mit der Rechten an die Schlafmütze, als wolle er militärisch salutieren.
„Mein Herr, Sie sind der Chevalier de Planto?“ fuhr jener fort.
Die grauen Augen fingen an zu glänzen, er warf stechende Blicke auf den Direktor und den Referendar, schüttelte mit höhnischer Miene den Kopf und antwortete: „Der Chevalier ist längst tot.“
„So? wer sind denn Sie; antworten Sie, ich frage im Namen des Königs.“
Der Kranke lachte: „Ich nenne mich Lorier; bête, gib dem Herrn meine Pässe!“
„Ist nicht nötig; kennen Sie dies Tuch, mein Herr?“
„Was werde ich es nicht kennen, Sie haben es da von meinem Stuhl weggenommen; wozu diese Fragen, wozu diese Szenen? Sie genieren mich, mein Herr!“
„Belieben Sie auf Ihre linke Hand zu schauen“, sagte der Direktor; „dort halten Sie ja Ihr Tuch; dieses hier fand sich im Hause einer gewissen Giuseppa Bianetti.“
Der Kranke warf einen wütenden Blick auf die Männer; er ballte seine Faust und knirschte mit den Zähnen; er schwieg hartnäckig, obgleich der Direktor seine Fragen wiederholte. Dieser gab jetzt dem Doktor einen Wink, er ging hinaus und erschien bald darauf mit der Sängerin, dem Kapellmeister Boloni und dem …schen Gesandten in dem Zimmer.
„Herr Baron von Martenow“, wandte sich der Direktor zu diesem, „erkennen Sie den Mann für denselben, den Sie in Paris als Chevalier de Planto kannten?“
„Ich erkenne ihn für denselben“, antwortete der Baron, „und wiederhole meine Aussagen über ihn, die ich früher zu Protokoll gab.“
„Giuseppa Bianetti! erkennen Sie ihn für denselben, der Sie aus dem Hause Ihres Stiefvaters führte, in sein Haus nach Paris brachte, für denselben, den Sie eines Mordversuches beschuldigen?“
Die Sängerin bebte bei dem Anblick des fürchterlichen Mannes; sie wollte antworten, aber er selbst ersparte ihr jedes Geständnis. Er richtete sich höher auf, seine wollene Mütze schien spitziger aufzustehen, seine Arme waren steif, er schien sie mit Mühe zu bewegen, aber seine Finger krallten sich krampfhaft auf und zu; seine Stimme schlich sich nur noch leise und heiser aus der Brust herauf, selbst sein Lachen und seine Flüche wurden beinahe zum Geflüster. „Kommst du, mich zu besuchen, Schepperl?“ sagte er; „das ist schön von dir; nicht wahr, du weidest dich recht an meinem Anblick? Es ist mir wahrhaftig leid, daß ich dich nicht besser getroffen, ich hätte dir dadurch den Schmerz erspart, deinen Oheim vor seiner Abreise von diesen deutschen Tieren verhöhnt zu sehen.“
„Was brauchen wir weiter Zeugnis?“ unterbrach ihn der Direktor; „Herr Referendarius Pfälle, schreiben Sie einen Verhaftungsbefehl gegen –“
„Was tun Sie?“ rief der Doktor, „sehen Sie denn nicht, daß ihm der Tod schon am Herzen ist? Er treibt es keine Viertelstunde mehr. Eilen Sie, wenn Sie noch etwas zu fragen haben.“
Der Direktor befahl dem Lakai, den Gerichtsdienern zu rufen, sie sollen den Gefangenen heraufbringen; der Kranke sank mehr und mehr zusammen, sein Auge schien still zu stehen, es hatte nur eine Richtung, nach der Sängerin, aber auch jetzt noch schien Wut und Ingrimm daraus hervorzublitzen. „Schepperl“, sprach er wieder, „du hast mich unglücklich gemacht, zu Grunde gerichtet, darum verdientest du den Tod; du hast deinen Vater zu Grund gerichtet, sie haben ihn auf die Galeere geschickt, weil er dich mir um Geld verkauft hat; er hat mich beschworen, dich umzubringen; es tut mir leid, daß ich gezittert habe. Verflucht seien diese Hände, die nicht einmal mehr sicher stoßen konnten!“ Seine greulichen Verwünschungen, die er über sich und Giuseppa ausstieß, wurden durch eine neue Erscheinung unterbrochen. Zwei Gerichtsdiener brachten einen Mann in türkischer Kleidung; es war der unglückliche Ali Pascha von Janina – der Turban bedeckte das jammervolle Haupt des Kommerzienrats Bolnau. Alle erstaunten über diesen Anblick, besonders schien der Kapellmeister sehr betreten; er erblaßte und errötete und wandte sein Gesicht ab. „Monsieur de Planto“, sprach der Direktor, „kennen Sie diesen Mann?“ Der Kranke hatte die Augen geschlossen; er riß sie mühsam auf und sagte: „Gehet zu allen Teufeln, ich kenne ihn nicht“.
Der Türke sah die Umstehenden mit kummervoller Miene an. „Ich wußte wohl, daß es so kommen werde“, sprach er mit weinerlichem Tone. „Es hat mir schon lange geahnet. Aber Mademoiselle Bianetti, wie konnten Sie doch einen unschuldigen Mann so ins Unglück bringen?“
„Was ist es denn mit diesem Herrn?“ fragte die Sängerin. „Ich kenne ihn nicht, Herr Direktor, was hat denn dieser getan?“
„Signora“, sprach der Direktor mit tiefem Ernst, „vor den Gerichten gilt keine Nachsicht oder irgend eine Schonung, Sie müssen diesen Herrn kennen; es ist der Kommerzienrat Bolnau. Ihr eigenes Kammermädchen hat eingestanden, daß Sie bei dem Mord seinen Namen ausgerufen haben.“
„Freilich!“ klagte der Pascha. „Meinen Namen genannt unter so verfänglichen Umständen!“
Die Sängerin erstaunte, eine tiefe Röte flog über ihr schönes Gesicht, sie ergriff in großer Bewegung den Kapellmeister bei der Hand: „Carlo“, rief sie, „jetzt gilt es zu sprechen, ich kann es nicht verschweigen; ja, Herr Direktor, ich werde diesen teuren Namen genannt haben, aber ich meinte nicht jenen Herrn, sondern –“
„Mich!“ rief der Kapellmeister und trat hervor. „Ich heiße, wenn es mein lieber Vater dort erlaubt, Karl Bolnau!“
„Karl! Musikant! Amerikaner!“ rief der Türke und umarmte ihn. „Das ist das erste gescheute Wort in deinem Leben, du hast mich aus einem großen Jammer befreit.“
„Wenn sich die Sache so verhält“, sagte der Direktor, „so sind Sie frei, und wir haben in dieser Sache nur mit gegenwärtigem Herrn Chevalier de Planto zu tun.“ Er wandte sich um zu dem Bette; dort stand der Arzt und hielt die Hand des Mörders in der seinigen; er legte sie ernst und ruhig auf die Decke und drückte ihm die starren Augen zu. „Direktor“, sagte er, „der macht es jetzt mit einem höheren Richter aus.“
Man verstand ihn; sie gingen aus dem Gemach des furchtbaren Toten und traten drüben bei dem Kapellmeister, dem glücklichen, wiedergefundenen Sohne des Pascha, ein; die Sängerin verbarg ihr Gesicht an der Brust des Geliebten, ihre Tränen strömten heftig, aber es waren die letzten, die sie ihrem unglücklichen Schicksal weinte; denn der Pascha ging lächelnd um das schöne Paar, er schien an einem großen Entschluß zu arbeiten; er besprach sich heimlich mit dem Medizinalrat und trat von diesem zu seinem Sohn und der Sängerin. „Liebste Mademoiselle“, sprach er, „ich habe Ihretwegen vieles ausgestanden, Sie haben meinen Namen so verfänglich genannt, daß ich Sie bitte, ihn mit dem Ihrigen zu vertauschen. Sie haben gestern meinen Teller mit Punsch verschmäht, werden Sie mich wieder zurückstoßen, wenn ich Ihnen gegenwärtigen Herrn Karl Bolnau, meinen musikalischen Sohn, präsentiere, mit der Bitte, ihn zu ehelichen?“
Sie sagte nicht nein; sie küßte mit Freudentränen seine Hand, der Kapellmeister schloß sie mit Entzücken in seine Arme und schien diesmal sein erhabenes Pathos ganz vergessen zu haben. Der Kommerzienrat aber faßte des Doktors Hand: „Lange, sage Er, hätte ich denken können, daß es so kommen würde, als Er mir den Schrecken in alle Glieder jagte, als ich die Scheiben des Palais zählte und Er mir sagte: ‚Ihr letztes Wort war Bolnau!‘“
„Nun! was will Er weiter!“ antwortete der Medizinalrat lächelnd. „Es war doch gut, daß ich es Ihm damals sagte; wer weiß, ob alles so gekommen wäre ohne das letzte Wort der Sängerin.“